Die Kunst, einer Schnecke die Sporen zu geben

Als Liberale, Demokraten und Linke die moderne Schweiz nach ihren Vorstellungen einrichteten, störten sich während sehr langer Zeit die wenigsten von ihnen am Ausschluss der Frauen. Erst als sich die Frauen organisierten und gleiche Rechte forderten, kam es zu einem gesellschaftlichen Wandel, der noch nicht abgeschlossen ist.

Als die Ja-stimmenden Männer 1971 den Schweizer Frauen die staatspolitische Mündigkeit gewährten, kamen sie damit einer alten Forderung nach: In der Geschichte der modernen Schweiz wurde sie zunächst von einzelnen, dann von einer immer grösseren Zahl erhoben – und auf die lange Bank geschoben.

Als einer der ersten fragte der Zürcher Radikale Johann Jakob Leuthy im Jahre 1833 in seiner Publikation «Das Recht der Weiber»: «Hat der Mensch das Recht frei zu seyn? Sind die Weiber auch Menschen? Haben sie daher ein gleiches Recht frei zu seyn?» und antwortete darauf mit einem klaren Ja. Mit dieser Auffassung blieb er fast allein.

Bundesstaat auf tönernen Füssen

Mit der Gründung des Bundesstaates 1848 gaben sich die Schweizer Männer als erste in Europa zusammen mit den Franzosen das Stimm- und Wahlrecht. Ihre Söhne engagierten sich in der Demokratischen Bewegung der 1860er Jahre für die «Volksrechte», liessen die Schweizerinnen jedoch nicht daran teilhaben. Für die Frauen standen im 19. Jahrhundert allerdings Forderungen wie die Aufhebung der Geschlechtervormundschaft und der Diskriminierung im Erbrecht und bei der Bildung im Vordergrund. Damit fanden sie ebenfalls lange kein Gehör.

Rötlicher Umschlag von «Das Recht der Weiber. Zeitschrift für Frauen und Jungfrauen», erschienen in Riesbach am Zürichsee.
Zeitschrift «Das Recht der Weiber» des Zürcher Radikalen Johann Jakob Leuthy (einzige Nummer, 1833)

Doch es gab Frauen, die die politische Gleichstellung forderten. Zum Beispiel die Genferin Marie Goegg-Pouchoulin. Sie gründete 1869 die «Association internationale des femmes» und 1872 zusammen mit Julie von May in Bern die (nationale) «Association pour la défense des droits de la femme». Das waren die ersten feministischen Organisationen in der Schweiz. Bereits 1873 forderte die nationale Vereinigung «die absolute Gleichstellung der Frau vor dem Gesetze und in der Gesellschaft». Frauen begannen sich zunehmend zu organisieren: Arbeiterinnen 1890 im Schweizerischen Arbeiterinnenverband (SAV), bürgerliche Frauen 1900 im Bund Schweizerischer Frauenvereine (heute alliance F), 1909 dann im Schweizerischen Verband für Frauenstimmrecht (SVF, heute Schweizerischer Verband für Frauenrechte).

Bundesrichter vergeben ihre Chance

1887 hatte das Bundesgericht die Chance, die Frauen als Staatsbürgerinnen anzuerkennen, – und vergab sie. Geklagt hatte die Zürcherin Emilie Kempin-Spyri, die erste Schweizerin, die ein Jusstudium absolvierte. Sie konnte nicht als Anwältin praktizieren, weil ihr die staatsbürgerlichen Rechte fehlten. Sie forderte diese ein mit Hinweis auf Artikel 4 der Bundesverfassung, der festhielt: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich.» Dabei umfasse «Schweizer» auch die Schweizerinnen. Die Bundesrichter lehnten eine Auslegung zugunsten der Frauen ab mit dem Argument, eine solche widerspräche der «zur Zeit noch zweifellos herrschenden Rechtsauffassung». Dabei hätte es das Gericht in der Hand gehabt, mit dieser patriarchalen Tradition zu brechen und dem Prinzip der Rechtsgleichheit Nachachtung zu verschaffen.

Generalstreik und rote Patriarchen

Das aktive und passive Frauenwahlrecht war die zweite von neun Forderungen, die das Oltener Aktionskomitee in seinem Streikaufruf 1918 aufstellte. Rosa Bloch-Bollag wirkte als einzige Frau im Aktionskomitee mit; sie und die Anliegen der Frauen hatten bei den «roten Patriarchen» lange einen schweren Stand.

Bürgerliche Frauen wagen 1928 einen neuen Versuch, dem Frauenstimmrecht «Beine zu machen»: An der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) in Bern demonstrieren sie mit einer riesigen Schnecke, um das fehlende Tempo der Behörden anzuprangern. Ihre Petition, unterschrieben von einer Viertelmillion Frauen und Männern, verschwand in einer Schublade.

Parlamente, Regierungen und die Wehrmänner

Zwar gab es immer wieder Parlamentarier, die Vorstösse zugunsten der Frauenrechte einbrachten. Sowohl die Motionen der Nationalräte Herman Greulich (SP ZH) und Emil Göttisheim (Freisinn, BS) im Dezember 1918 als auch die Vorstösse 1944 von Hans Oprecht (SP ZH) und 1949 von Peter von Roten (KK VS) blieben aber wirkungslos. Im Kalten Krieg verstanden es die wehrfähigen Schweizer, ihre Machtposition gegenüber den Frauen auch an der Urne zu behaupten: 1959 lehnten sie das Frauenstimmrecht mit Zweidrittelmehrheit ab.

Umbruch und Durchbruch

Der soziokulturelle Wandel von «1968» erfasste auch die Schweiz und manifestierte sich beispielsweise in den katholisch geprägten Landesteilen im progressiven Schub, den das II. Vatikanische Konzil auslöste. An die Stelle des traditionellen Bildes vom «starken Mann», der die Frau «beschützt», trat zunehmend das Ideal des «Partners». Als Frauenrechtlerinnen im März 1969 einen «Marsch nach Bern» organisierten, schlossen sich ihnen solche «neuen Männer» an. Die deutliche Zustimmung zum Frauenstimmrecht 1971 an der Urne war «nur» die Folge dieses tiefgreifenden Wandels – der damit freilich noch lange nicht abgeschlossen war, wie die darauf folgenden 50 Jahre zeigen sollten.

Literatur und Quellen

Letzte Änderung 20.10.2021

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