Flashback 125 NB – Monte Verità

banner125

Der Flashback 125 NB dieses Monats handelt von der Entstehung der innovativen Gemeinschaft «Monte Verità», die der Gesellschaft einen dritten, spirituellen Weg zur Selbstfindung aufzeigen wollte. Die schon begangenen Pfade sind der Kapitalismus respektive der Kommunismus.

Die schwarz-weisse Illustration gehört zu Hannes Binders Comic «Wachtmeister Studer im Tessin. Eine Fiktion», erschienen 1996 im Zytglogge-Verlag Bern. Der Comic beruht auf den lange unveröffentlichten Textfragmenten «Ascona» von Friedrich Glauser. Im Bild sitzt Wachtmeister Studer mit seiner Frau Hedy in Locarno auf der Piazza und schaut sich einen Film über den Monte Verità an. Wir sehen in Richtung Leinwand. Im oberen Bilddrittel ist eine Film-Szene zu sehen mit einer nackten Tänzerin in einem Laban-Tanz-Gerät, dem Ikosaeder. Die unteren zwei Drittel des Bildes zeigen Studers Imagination: Die Tänzerin hat sich von der Leinwand gelöst und strebt mit drei bärtigen, langhaarigen Reformern – eine typische Besetzung der Monte Verità-Gemeinschaft – im flimmerden Festival-Licht am Seeufer dem Monte Verità entgegen.
Hannes Binder: Ikosaeder. Schabkarton-Zeichnung © Hannes Binder. (Wiedergegeben in: Wachtmeister Studer im Tessin. Eine Fiktion, Gümligen: Zytglogge-Verlag Bern 1996)
© SLA: Archiv Hannes Binder

Der «Monte Verità» und die Nationalbibliothek sind gleichaltrig. Die Zeit war reif für uns – wir mussten entstehen. Wir sind offen für alle. Alle suchen bei uns etwas Anderes. Alle sehen in uns etwas Anderes.Wir sind ein Magnet, der Menschen anzieht. Die einen wollen ungestört arbeiten oder kuren, die anderen möchten ihr Glück finden. Einige suchen Quellen zu Utopien und Geschichten, andere suchen Statistiken und Zahlen. Es gibt solche, die kommen ausschliesslich zum Kaffeetrinken oder zum Mittagessen, und solche, die ihren Blickwinkel «sharen» möchten. Andere wiederum möchten sehen oder gesehen werden. 

Architektonisch betrachtet gleichen wir einander: die Bibliothek, das Hotel Monte Verità - Neues Bauen, Bauhaus. Wir schaffen einen Raum für die Horizonterweiterung. Wir schätzen verschiedene Wertevorstellungen. Wir bieten Licht und Wärme.

Offenes Feld des Experimentierens

Hingegen ist der Monte Verità ländlich. Die Monte Verità-Gemeinschaft geht zurück zur Natur. Diese lebt alternativ, vegan und drogenfrei. Sie ist ein internationaler Schmelztiegel, ein Konglomerat aus TheosophInnen, Illuminaten, Anarchist*innen, Nationalsozialisten, TänzerInnen, Eurythmisten, GärtnerInnen, Luftbadenden, sexuell Befreiten, Künstler*innen, Bohèmiens, SchriftstellerInnen, MäzenInnen, PredigerInnen, PsychologInnen, politisch Aufgeweckten, feministisch Aufgeklärten, orthographisch Reformierten, Kriegs- und Revolutionsflüchtlingen, DadaistInnen, KolonialistInnen, Adligen, Geldinteressierten und ReformerInnen. Hauptsache, Du verwirklichst Dich. Wenn Du Dich verwirklichst, bist Du frei und die Welt wird eine bessere Welt.

Zum Monte Verità wurde vieles schon gesagt und getan.Am Anfang stand der Ruf nach dem paradiesischen Süden und der Sonne. Der Boden war gepflügt: Bakunin war seit 1873 mit seiner anarchistischen Entourage in Minusio. Ebenfalls am Anfang stand die Kombination von Geld und Geist, verkörpert im weltgewandten, belgischen Industriellensohn Henri Oedenkoven und der feministisch denkenden Musikerin Ida Hofmann sowie dem alternativ-urchristlich gesinnten Aussteiger Karl Gräser mit seinem Bruder Gusto. Die Gründer*innen hatten sich in der damals österreichischen Naturheilanstalt des Schweizer Sonnendoktors Arnold Rikli kennengelernt.

Die Ideenwelt des Monte Verità übt eine ambivalente Wirkung aus auf die heutigen Menschen: anziehend und abstossend zugleich – die Gleichgültigkeit liegt in weiter Ferne. Der Monte Verità ist ein aristokratisches Phänomen, eine Revolution von oben.Innovativ waren die Grundgedanken Ida Hofmanns zur Gleichberichtigung von Frau und Mann. Der menschliche Körper wurde aus dem Korsett befreit. Ihm wurde Raum und Luft geben, auch mit der entsprechenden Reformkleidung.Innovativ waren die Ideen des gesunden Lebens, der veganen Ernährung, des drogenfreien Lebens, der Lichttherapie, der Bewegung, des Tanzes, der Selbstverwirklichung.

Interessant waren die unkonventionellen politischen Ideen, weg von der Konformität, hin zu alternativen Lebensgemeinschaften, zur wilden Ehe. Der Umbau der Gesellschaft sollte hier verwirklicht werden.

Innovativ war die Orthographie der Reform-Bewegung: man soll schreiben, wie man spricht: «Wer bei ‘sig’, ‘her’ und ‘war’ stolpert, sol halt gefälikst beser hinkuken.»

Der Monte Verità zog eine innovative und internationale Nachbarschaft an, allen voran die Casa Gabriella, in der Olga Fröbe-Kapteyn ein C. G. Jung-Center aufbaute und die Eranos-Tagungen organisierte, sowie den Elisarion Klaristen-Tempel, in welchem das homoerotische Rundbild «Die Klarwelt der Seligen» des Künstlers Elisar von Kuppfer gezeigt wurde.Der Monte Verità war ein Faszinosum für Künstler aller Länder, sie konnten sich frei und ohne Zensur entfalten.

Der Widerspruch inkongruenter Ziele liess das Gründerpaar scheitern: das einfache Leben predigen und als erstes eine Heizung in die Casa Anatta einbauen, von Selbstversorgung schwärmen und Paranüsse knabbern, eine antikonforme Gesellschaft anstreben und Geld mit Kurgästen generieren. Nach dem lukrativen Verkauf der Monte Verità-Immobilie wanderten die Oedenkoven nach Brasilien aus mit der Absicht, eine neue genuine Gemeinschaft zu kreieren. Heute stehen vegane Produkte in den Regalen der Grossverteiler – der dritte Weg ist einverleibt, viele innovative Ideen von damals sind systemkonform geworden, kommerziell aufbereitet.

Von der Ablehnung zur Etablierung

Die Rezeption des Monte Verità in der Tagespresse zeigt, dass sich alle zum Monte Verità äussern konnten – Kurgäste, Journalist*innen, Polizisten. Schon 1907 wurde im ‘Nouvelliste Valaisan’ Henri Oedenkoven als Sektengründer («fondateur de cette étrange secte») bezeichnet, worauf Oedenkoven in der Presse jeweils nur noch reagieren konnte, um sich von dort ansässigen, radikalen Gruppierungen zu distanzieren. Nach jedem Mord, nach jeder Untat in seiner Umgebung wurde der Monte Verità erwähnt. Nach der Initialphase der Diffamierung ging es dann jahrelang um Vermutungen zum Verkauf der Liegenschaft des Monte Verità. Als neuer Eigentümer erwarb im Jahr 1926 der Bankier und Kunstmäzen Eduard von der Heydt den Monte Verità. Baron von der Heydt wurde von einem Schweizer Militärgericht 1948 von der Anklage des Spionage freigesprochen. Dennoch beschäftigten sich Institutionen wie das von ihm reich beschenkte Museum Rietberg und Fachleute anderer Museen jahrelang mit der Frage, welches von der Heydts Funktion während des Zweiten Weltkrieges war (vgl.: Wuppertaler Museum, Symposium, 23. und 24. Oktober 2015). Eduard von der Heydt vermachte den Monte Verità dem Kanton Tessin.

In den 1950er- bis 1990er-Jahren hat der Kanton Tessin in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich den Monte Verità in ein Seminarzentrum verwandelt. Zudem hat Harald Szeemann 1978 mit seiner Wanderausstellung «Monte Verità: le mammelle della verità» die visionären Ideen des Monte Verità im Gedächtnis der Schweiz verankert.Heute führt die Fondazione Monte Verità den Betrieb: das Historic Hotel, das Kongresszentrum, die Veranstaltungen, Ausstellungen und das Teehaus.

Der Monte Monescia, der grüne Hügel, auf dem einst niemand wohnen wollte, wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts zur Projektionsfläche und zum Reflexionsraum für Suchende vielerlei Couleur. 

Letzte Änderung 29.07.2020

Zum Seitenanfang

Kontakt

Schweizerische Nationalbibliothek
SwissInfoDesk
Publikumsinformation
Hallwylstrasse 15
3003 Bern
Schweiz
Telefon +41 58 462 89 35
Fax +41 58 462 84 08
E-Mail

Kontaktinformationen drucken

https://www.nb.admin.ch/content/snl/de/home/recherche/r-monat/monteverita.html