Die Ernährungsfrage kann eng mit der Frage nach politischer Teilhabe verknüpft sein. Dieser Beziehung wird hier anhand der Ernährungskrise in der Schweiz von 1914–1918 nachgegangen: Frauen vom Land wie aus der Stadt haben sich während dem Ersten Weltkrieg ein Mitspracherecht erkämpft und an der Ausgestaltung wichtiger politischer Fragen partizipiert.
Ernährung hat nicht nur eine physiologische Komponente, sondern betrifft ebenfalls die Ebenen der Moral und der Politik. Besonders stark brennt sich die Beziehung von Moral, Politik und Ernährung in das Bewusstsein der Gesellschaft ein, wenn zu wenig Nahrungsmittel für eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung stehen. In der Schweiz sahen sich die Menschen zuletzt während dem Ersten Weltkrieg mit einer Verknappung von Nahrungsmitteln und entsprechenden Teuerungen konfrontiert.
Die relativ lange Kriegsdauer (1914–1918) hat dürftig bereitgestellte, staatliche Vorsorgemassnahmen ausgehebelt, die Erschwerungen im internationalen Handel haben Staaten weitgehend auf ihre eigenen Produktionsleistungen zurückgeworfen und zu allem Übel hinzu haben schlechte Witterungslagen in wichtigen nahrungsmittelerzeugenden Ländern zu Ernteeinbussen geführt. Dieses fatale Cluster brachte nicht nur der Schweiz Ernährungsmangel und fatale Preisteigerungen beim Konsum und höhere Kosten auf der Produktionsseite.
Arm und ohnmächtig in der Stadt
In Arbeiterfamilien in den Städten fehlte durch die Kriegsmobilmachung auf einmal ein Einkommen vollständig. Ein Erwerbsersatz bei Militärdienst gab es zur Zeit des Ersten Weltkriegs noch nicht und so waren gerade die Arbeiterinnen in den Städten alleine für die Versorgung ihrer Familien zuständig. Ohnmächtig sahen sie sich immer weiter galoppierenden Preise für Nahrungsmittel gegenüber. Ohne politische Teilhabe, jedoch mit existentiellen Ängsten konfrontiert, begannen städtische Konsumentinnen vorerst spontan zu rebellieren: Ab 1915 taten sich in verschiedenen Schweizer Städten Konsumentinnen zusammen, beschlagnahmten Waren, welche aus ihrer Sicht zu teuer verkauft wurden und begannen diese in Eigenregie zu einem von ihnen als gerecht empfundenen Preis zu verkaufen. Dabei erachteten sich die Protestierenden als verlängerter Arm der Polizei, um direkt gegen Wucher einzuschreiten. Auf diese kämpferische Weise durchbrachen die städtische Konsumentinnen ihre Ohnmacht und erhoben ihre Stimmen gegen die vermeintliche Ungerechtigkeit, welche sie in erster Linie bei angeblich gierigen Lebensmittelproduzenten (vgl. Bild) ausmachten.
Überarbeitet und stimmlos auf dem Land
Die Konfliktlinien zwischen städtischen Konsumentinnen und landwirtschaftlichen Produzenten schienen unverrückbar. Eine Bäuerin jedoch erhob in der männlichen dominierten Welt der Landwirtschaft ebenfalls ihre Stimme und plädierte für eine Ausschaltung des Zwischenhandels und direktere, engere Marktbeziehungen zwischen Konsumentinnen und Produzentinnen. Sie wollte erreichen, dass beide Seiten damit ihre jeweiligen Lebenswelten und Probleme wieder kennenlernen und auf diesem Weg gerechte Preise für beide Seiten ausgestalten könnten. Diese Bäuerin - Augusta Gillabert-Randin – gründete die «Association des productrices de Moudon» (APM) mit dem Ziel, mittels Sammeltransporten die landwirtschaftlichen Produkte in die Städte zu bringen und so direkte Beziehungen zwischen Produzentinnen und Konsumentinnen aufzubauen und gegenseitigen Respekt zu ermöglichen. Randin beabsichtigte aber nicht nur eine Entspannung zwischen Stadt und Land herbeizuführen, sie engagierte sich insbesondere auch für eine Besserstellung der Frauen innerhalb der schweizerischen Landwirtschaft. Sie arbeitete am 2. Schweizerischen Frauenkongress 1921 mit, nahm mit der APM an der Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) 1928 teil und kämpfte für das Frauenstimmrecht in der Schweiz.
Vergessene Stimmen von unten
Diese kurze historische Episode zeigt die enge Verzahnung der Ernährungsfrage mit der politischen Teilhabe. Frauen waren während der Zeit des Ersten Weltkrieges sowohl in der Stadt wie auf dem Land von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Aufgrund ihrer kriegsbedingten Verantwortung haben die Frauen ihre politische Stimme erhoben und für Partizipation gekämpft. Lange Zeit wurde dieses weibliche Engagement in der schweizerischen Geschichtsschreibung entpolitisiert und marginalisiert. Erst heute finden diese Stimmen ihren Platz in der Geschichte.
Literatur und Quellen
- Daniel Flückiger, Peter Moser: Gillabert-Randin, Augusta (1869-1940); Datenbank AfA-Portal Personen und Institutionen, Version vom Juni 2021.
- Regula Ludi: Augusta Gillabert-Randin, in: e-HLS, Version vom 22.01.2020.
- Marthe Gosteli; Peter Moser (Hg.): Une paysanne entre ferme, marché et associations. Textes d’Augusta Gillabert-Randin 1918-1940, Baden 2005.
- Vorkämpferin : offizielles Organ des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes, 01.08.1916: 4-5.
- Béatrice Ziegler: Arbeit – Körper – Öffentlichkeit. Berner und Bieler Frauen zwischen Diskurs und Alltag (1919-1945), Zürich 2007.
- Getrud, Schmid-Weiss: Schweizer Kriegsnothilfe im Ersten Weltkrieg: Eine Mikrogeschichte des materiellen Überlebens mit besonderer Sicht auf Stadt und Kanton Zürich, Wien 2019.
- Daniel Burkhard: Die Kontroverse um die Milchpreisteuerung in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges, in: Daniel Krämer, Christian Pfister, Daniel Marc Segesser (Hg.): «Woche für Woche neue Preisaufschläge» Nahrungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonflikte in der Schweiz des Ersten Weltkrieges. Basel 2016: 235-255.
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- Maria Meier: Von Notstand und Wohlstand: Die Basler Lebensmittelversorgung im Krieg 1914-1918, Zürich 2020.
- Juri Auderset; Peter Moser: Krisenerfahrungen, Lernprozesse und Bewältigungsstrategien: Die Ernährungskrise von 1917/18 als agrarpolitische «Lehrmeisterin», in: Thomas David; Jon Matthieu; Jannick Schaufelbuehl; Marina Janick; Tobias Straumann (Hg.): Krisen. Ursachen, Deutungen und Folgen, Zürich 2012: 133-149.
Letzte Änderung 17.08.2021
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