Es geht auch ohne Herz

Die Lesbenfront, eine Arbeitsgruppe der Homosexuellen Frauengruppe Zürich, gab ihrer Zeitschrift ab 1984/85 für die folgenden zehn Jahre den programmatischen Namen «Frau ohne Herz». Damit wehrten sich die Macherinnen gegen die patriarchale Festlegung der Frauen auf die Rolle von «beherzten Stauffacherinnen».

Nachdem die Schweizer Frauen 1971 endlich das Stimm- und Wahlrecht erlangt hatten, fassten sich einige «Stauffacherinnen» ein Herz – und stellten fest: Es geht auch ohne. Doch von vorne:

In Schillers «Wilhelm Tell» (Verse 326 ff.) macht sich Werner Stauffacher Sorgen um das Schicksal der Frauen, wenn die Männer «tapfer fechtend sterben». Seine Frau Gertrud entgegnet ihm, als letzte Wahl stehe «auch dem Schwächsten» der Sprung von einer Brücke frei. Diese Antwort entzückt den Gatten so sehr, dass er sich in Gertruds Arme stürzt mit den Worten: «Wer solch ein Herz an seinen Busen drückt, der kann für Herd’ und Hof mit Freuden fechten.» Während also er und seine Spiessgesellen in den Kampf um die öffentliche, politische Ordnung ziehen, kümmern sich die Frauen zuhause um Hof und Tiere (und die Kinder). Dafür hat die «Natur» die Frauen mit einem speziellen Organ ausgestattet: dem «Herz».

Lesben erheben ihre Stimmen

Von einer solchen Fremddefinition und der Heteronormativität der patriarchalen Ehe hatte die Lesbenfront genug, wie in der ersten Nummer ihrer gleichnamigen Zeitschrift im Oktober 1975 nachzulesen ist. Als Arbeitsgruppe der Homosexuellen Frauengruppe Zürich trafen sich die ehrenamtlichen Redaktorinnen und Autorinnen im Frauenzentrum der Frauenbefreiungsbewegung FBB in Zürich. Sie waren Teil jener vielfältigen Neuen Frauenbewegung, die sich mit der Emanzipation der Frau im Sinne der formalen rechtlichen Gleichstellung mit den Männern nicht zufriedengab. Vielmehr strebte sie nach einer umfassenden Transformation der repressiven, ausbeuterischen Gesellschaft mit dem Ziel, auch für unkonventionelle Lebensentwürfe Raum zu schaffen.

Auf dem Kupferstich sind Werner und Gertrud Stauffacher mit ihren Kindern auf der Veranda vor ihrem Haus zu sehen. Werner sitzt mit sorgenvoller Miene auf einem Stuhl, daneben steht in aufrechter Haltung mit erhobenem Zeigefinger die mahnende Gattin. An ihrem Rock hält sich das eine Kind fest, rechts davon spielt das andere mit einer Armbrust.
Buri & Jeker sc., Die Stauffacherin, in: Heinrich Herzog, «Die schweizerischen Frauen in Sage und Geschichte», Aarau 1898

Nach zehn Jahren, mit Nummer 20, erhielt die Zeitschrift den neuen, programmatischen Namen «Frau ohne Herz». Innerhalb der Arbeitsgruppe war der neue Name umstritten, wie das Editorial transparent macht. Eine Minderheit bemängelte, der Titel «Frau ohne Herz» bedeute die blosse Negation der herrschenden Ideologie, welche die Frauen auf «HerzGemütGefühl» festlegt. Bei der Lektüre ihrer eigenen Lesbenzeitschrift wolle die Leserin nicht ständig an die Boulevardzeitschrift «Frau mit Herz» erinnert werden. (Diese war 1949 hervorgegangen aus der Illustrierten «Sonne ins Heim» und liegt noch heute an den Kiosken auf.) Demgegenüber stecke im bisherigen Titel die eigene Aktion und Definition: «Wir kämpfen gegen die Zwangsheterosexualität, die psychische Vernichtung unserer Identität. In diesem Sinn bedeutet Lesbenfront: Zusammenstehen und sich wehren.»

Zeiten und Zeitschriftentitel wandeln sich

Nach weiteren 10 Jahren, im Oktober 1995, erschien mit Heft 35 die letzte Nummer von «Frau ohne Herz». Der Abschied vom bisherigen Namen der Zeitschrift bot Anlass, auf die Anfänge der Homosexuellen Frauengruppe in den 1970er Jahren zurückzublicken. Diese Rückschau gewährt zum Teil überraschende Einblicke wie jenen, dass es in der FBB die Angst gab, «die Lesben würden den Ruf der FBB beeinträchtigen».

Die Fortsetzungen der Zeitschrift erschienen unter den Titeln «Die: Lesbenzeitschrift» (1996–2004) und «Skipper: Magazin für lesbische Lebensfreude» (2004–2005). Sämtliche gedruckten Ausgaben der Jahre 1975 bis 2005 wurden inzwischen digitalisiert und auf dem Portal E-Periodica online gestellt.

«Wehe, wenn sie losgelassen!»

Bei Schiller («Das Lied von der Glocke», Vers 163) bezieht sich der sprichwörtliche Warnruf auf das Feuer, «die freie Tochter der Natur». Sinngemäss bringt er aber auch die Befürchtung zum Ausdruck, dass «Willkür» Einzug halte, wenn die Frauen in den Stand versetzt würden, über politische Belange mitzuentscheiden. Rückblickend müssen sich diese «Eingeschüchterten» bestätigt fühlen: Nicht nur gelang es den stimmberechtigten Frauen, in einem guten Dutzend eidgenössischen Volksabstimmungen die Mehrheit der Männer zu überstimmen und das Resultat in ihrem Sinne zu kehren. Darüber hinaus wussten die Frauen mit ihren neuen Freiheiten vieles anzufangen, was einst nicht bloss als «unbotmässig» betrachtet, sondern von Staat und Gesellschaft unterdrückt worden war. Der Spontispruch «Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad» erheitert heute selbst Leute, die vor wenigen Jahren noch nicht wussten oder wissen wollten, dass es gutes lesbisches Leben gibt.

Literatur und Quellen

Letzte Änderung 12.12.2021

Zum Seitenanfang

Kontakt

Schweizerische Nationalbibliothek
SwissInfoDesk
Publikumsinformation
Hallwylstrasse 15
3003 Bern
Schweiz
Telefon +41 58 462 89 35
Fax +41 58 462 84 08
E-Mail

Kontaktinformationen drucken

https://www.nb.admin.ch/content/snl/de/home/recherche/r-monat/ohne-herz.html