Wer über genügend Budget verfügt, kann heute aus einem riesigen Angebot von Lebensmitteln auswählen. Unsere Menüwahl sagt einiges aus über unseren Lebensstil und unsere Werte.
Wir essen, was uns zur Verfügung steht und was uns schmeckt. Wir verraten dabei einiges über Lebensstil und Werthaltung. Beim Essen zeigen wir, was wir uns leisten können und welche Ernährung uns richtig scheint. Kochen im trauten Heim, Foodkurier, Erlebnisgastronomie, Bräteln am See – allein oder gemeinsam. Bewusste und unbewusste Verhaltensregeln begleiten uns dabei. Im Mittelalter kannte man «Tischzuchten», Anleitungen für Tischmanieren. 1788 hat Adolph Knigge die guten Umgangsformen publiziert, die noch heute gerne zitiert werden. In der gutbürgerlichen Welt gab es Verhaltenscodes für das konforme Benehmen bei Tisch, Ende des 19. Jahrhunderts musste man sich im Schweizer Bürgertum damit auskennen, um während des Tafelns keinen Fauxpas zu begehen. Wer von der Einladungsliste gestrichen wurde, verlor den Kontakt zum wirtschaftlichen Beziehungsnetz.
Die Qual der Wahl beim Menü
Im privaten Rahmen geht es heute weniger um konforme Tischsitten als um die feinen Unterschiede beim Menü: Welche Lebensmittel kommen auf den Tisch? Welche Kriterien gingen der Wahl voraus? Was will man zeigen: Exklusivität und Luxus? Ökologisches Bewusstsein und entsprechendes Handeln? Oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe?
Denn neben Nährwerten stiftet Essen auch Identität und Heimat: Unsere «Nationalwurst», der Cervelat, Fondue und Raclette. Für Fussballfans im Stadion gilt das beim rituellen Biss in die Grill-Wurst. Doch nicht alle haben die Wahl, über Nahrung zu kommunizieren und Werte zu transportieren, je nach Budget sind die Möglichkeiten verschieden. Das war früher nicht anders.
Landwirtschaft, Industrialisierung, Globalisierung, Food-Trends
Was wir essen, ist abhängig von Verfügbarkeit und Zugang zu Nahrungsmitteln. Bis etwa 1850 stammten die Nahrungsmittel mehrheitlich aus der Region. Was die regionale Landwirtschaft produzierte, stand auf dem saison- und ernteabhängigen Speiseplan. Fleisch gab es vor allem an Festtagen, für untere Schichten an Feier- und Schlachttagen. Mit der Industrialisierung veränderte sich der Alltag: Die langen Schichten in den Fabriken verunmöglichten der Arbeiterschaft aufwändiges Kochen, der Verdienst war knapp: Falsche und daher mangelhafte Ernährung war die Folge. Die Lebensmittelindustrie nahm die Produktion von Fertigprodukten wie der Maggi-Suppen auf, um schnellere und gesündere Ernährung zu ermöglichen. Das Metzgen der Tiere wurde in den Schlachthöfen konzentriert. Die Forschung interessierte sich nun für Ernährungsfragen. Neue Ansichten, was gesunde Ernährung sei, wurden propagiert, etwa Vegetarismus oder das "Birchermüesli". Der Wohlstand der Nachkriegsjahre und die Globalisierung brachten Veränderungen: War in den 1950er Jahren Pizza eine exotische Mahlzeit, finden wir heute im Grossverteiler Spezialitäten aus aller Welt zu erschwinglichen Preisen. Gleichzeitig stehen lokale Produkte und solche aus nachhaltiger, fairer Produktion hoch im Kurs. Billig produzierte Lebensmittel und Fleischprodukte aus Massentierhaltung finden ebenfalls ihre Käuferschaft.
Vegi oder Fleisch?
Die pflanzliche Ernährung spielte lange eine bedeutendere Rolle als der Fleischkonsum. Erst im 19. Jahrhundert waren in der Schweiz die Bedingungen gegeben, um genügend Fleischwaren zu bezahlbaren Preisen für alle zu produzieren. Um 1900 versuchte man, mit ernährungsreformatorischen Konzepten die «Volksgesundheit» zu verbessern, auch mit vegetarischer Ernährung. Das Konzept, dass nur das proteinhaltige Fleisch stark mache, und dass alle, die körperliche Arbeit verrichten – Männer – Fleisch essen müssten, kam ins Wanken. Der wirtschaftliche Aufschwung nach 1945 ermöglichte den Zugang zu Fleischwaren für viele. In den letzten Jahren hat die Kontroverse über die fleischhaltige Ernährung in Folge der Erkenntnisse über den Klimawandel an Fahrt aufgenommen, denn Fleischproduktion ist ressourcenintensiv und verursacht klimaschädliche Emissionen. Metzgereien propagieren den bewussten Fleischkonsum und bieten lange Verpöntes wie Innereien oder Suppenhuhn wieder an. Soll man Tiere töten, wenn man sich auch vegan ernähren kann? Ist ein Vegi-Burger nachhaltiger als ein Filet Mignon? Für Diskussionsstoff am Mittagstisch ist weiterhin gesorgt.
Literatur und Quellen
- Verein Kulinarisches Erbe der Schweiz
- Hugo Aebi, Unsere Ernährung im Spiegel des gesellschaftlichen Wandels, Bern: Schweizerische Vereinigung für Ernährung 1974
- Felix Escher; Claus Buddeberg (Hrsg.), Essen und Trinken zwischen Ernährung, Kult und Kultur, Zürich: vdf 2003
- Adolph Knigge; Felix Goda, Der Original Knigge in modernem Deutsch. Über den Umgang mit Menschen, 4. Auflage, Zürich: Persephone Verlag 2017
- Laurence Marti, C’est pas tous les jours dimanche! Les repas quotidiens dans le Jura (années 1920 à 1950), Porrentruy: Société jurassienne d’émulation 2010
- Ernst Mohr, Ökonomie mit Geschmack . Die postmoderne Macht des Konsums, Hamburg: Murmann 2014
- Martin Schaffner (Hrsg.), Brot, Brei und was dazugehört . Über sozialen Sinn und physiologischen Wert der Nahrung, Zürich: Chronos-Verlag 1992
- Uwe Schultz (Hrsg.), Speisen, Schlemmen, Fasten . Eine Kulturgeschichte des Essens, Frankfurt a.M. : Insel-Verlag 1993
- Albert Wirz, Die Moral auf dem Teller . Dargestellt an Leben und Werk von Max Bircher-Brenner und John Harvey Kellogg, zwei Pionieren der modernen Ernährung in der Tradition der moralischen Physiologie , mit Hinweisen auf die Grammatik des Essens und die Bedeutung von Birehermues und Cornflakes, Aufstieg und Fall des patriarchalen Fleischhungers und die Verführung der Pflanzenkost, Zürich: Chronos-Verlag 1993
- Dominik Wunderlin, Zu Tisch bei Helvetia . Auf dem Weg zu einem Inventar des kulinarschen Erbes der Schweiz. In: Tracht und Brauch 13 (2006), Nr. 1, S. 6-11
- Jakob Tanner, Fabrikmahlzeit . Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz, 1890-1950, Zürich: Chronos-Verlag 1999
- Jakob Tanner; Margarita Primas; Martin Illi, «Ernährung». In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 1.3.2017
Letzte Änderung 17.05.2021
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