Wohin gehen wir?

Der «Blick in die Zukunft» ist beim Jahreswechsel seit jeher besonders beliebt. Trotz kirchlicher und staatlicher Verdammung des dämonischen «Hexenwerks» betätigten sich Frauen auch in der Schweiz als «Wahrsagerinnen». Akten der Strafjustiz geben Aufschluss über die Motive der «Täterinnen» und ihrer Verfolger.

«Wohin gehen wir?» Diese existenzielle Frage drängt sich beim Jahreswechsel besonders auf. Dabei sind die Wege der Zukunftsergründung vielfältig. In einer kleinen Typologie lassen sich wenigstens vier Wege unterscheiden: das Planen, die Prognostik, die Divination und die Prophezeiung.

Beim Planen schreiben wir bekannte Verhaltensmuster und Intentionen in die Zukunft fort. Wir versuchen, dem Zeitenlauf unseren Willen aufzuzwingen. Doch besonders in Zeiten einer Pandemie wird uns bewusst: Es kommt oft anders, als wir planen.

Die Guggisberger Wahrsagerin ist ein Genrebild: Es zeigt eine Wahrsagerin in Alltagstracht. Sie liest die Handlinien einer adretten Städterin. Diese möchte in Erfahrung bringen, ob ihre gut betuchte männliche Begleitung ihr Liebesglück bescheren könnte. Im Hintergrund ist der nächste Kunde zu sehen: ein Bauer mit seiner Kuh. Die Kuh gibt möglicherweise zu wenig Milch.
Gottfried Locher (1735–1795): Die Guggisberger Wahrsagerin. Kolorierte Umrissradierung (NB, Graphische Sammlung)

Beim Prognostizieren extrapolieren wir gemachte Erfahrungen, um daraus eine künftige Entwicklung abzuleiten. Diese auf Gesetzmässigkeiten und Wahrscheinlichkeitsberechnungen beruhende Methode kommt zur Anwendung im Versicherungswesen, bei Wetter- und Klimavorhersagen, bei Börsenkurs- und anderen Prognosen.

Mit der Divination werden seit der Antike Naturphänomene interpretiert: Gedeutet wird z. B. der Vogelflug, die Innereien von Opfertieren, die Tarotkarten, das Auftreten von Kometen. Der oder die Deutende pflegt eine meditative Auseinandersetzung mit seiner bzw. ihrer Umgebung, um Zukünftiges zu erahnen.

Im Gegensatz zur Divination geht die Prophezeiung von der Vorstellung einer überirdischen geistigen Quelle aus. Wer prophezeit, empfängt und verkündet Botschaften oder Orakel von einer Gottheit, von einem Geist oder aus einem Traum.

Soziohistorische Aspekte des Wahrsagens

Um zu «funktionieren» benötigen alle beschriebenen Wege ein Publikum, das die Methode als plausibel einstuft. Kulturhistorisch lässt sich beobachten, dass mehrere Wege koexistieren und auch Mischformen auftreten können. In modernen, von der Wissenschaft geprägten Gesellschaften erfreuen sich die ersten beiden Vorhersagewege einer grossen Akzeptanz. Der Wechsel vom Zauber- oder Krummstab zum kritischen Massstab bedurfte jedoch eines langen, nicht abgeschlossenen Prozesses der Aufklärung.

Mit der Veröffentlichung von Heinrich Kramers «Malleus malficarum» (Hexenhammer) im Jahr 1486 nahm die willkürliche Verfolgung von «Wahrsagern» und anderen missliebigen Personen in Europa neue Dimensionen an. Von der Hetzschrift besonders betroffen waren die Nachfolgerinnen von Kassandra und Sybilla, wie ein Blick auf Frauen zeigt, die in der Schweiz geweissagt haben. In den Gerichtsakten tragen sie oft das Attribut «Wahrsagerin».

Schweizer Wahrsagerinnen

Eine Inquisitionsinstruktion vom 25. November 1635 hält fest, dass Wahrsagerei auch ohne förmliche Hingabe an den «bösen Feind» betrieben werden könne. Augrund dieser günstigen Annahme kamen einfache Wahrsagerinnen relativ glimpflich davon: Sie verloren ihr Aufenthaltsrecht.

1531 wurde eine Wahrsagerin in Lostorf (SO) als Hexe gefangengenommen. Der Rat beschloss, sie zu entlassen, sofern sie keine Unholdin sei. Mit einem Eid sollte sie aus der Vogtei verwiesen werden. Vermutlich blieb sie ansonsten straffrei, denn man hörte nichts mehr von ihr.

Mai 1643: Maria Magdalena Weltzin, des Schultheissen Tochter von Meyenen, Seidenstickerin und Wahrsagerin, soll im Wirtshaus zu Neuendorf (SO) Zaubereien betrieben haben. Sie wurde mit Eid von Stadt und Land verwiesen.

Am 31. August 1801 leitete Pfarrer Raillard bei St. Alban eine Untersuchung gegen eine Wahrsagerin ein. Sie betreibe mit Kartenschlagen ein wahrsagerisches Gewerbe und habe starken Zulauf. Die sittliche Ordnung leide darunter und er bitte um Klärung.

1814 gab es in Basel eine Untersuchung gegen die Kartenschlägerin Maria Magdalena Meyer, 40-jährig, geschieden, mit einem unehelichen Kind, von Oberstrass, Kanton Zürich: «Die Meyer lese aus Eyern».

Das Gerichtsurteil (Riehen 1838) gegen Salomea Ehrler wegen Kartenschlagens, das vom Landjäger veranlasst wurde, lautete «unschuldig». Dennoch wurde Ehrler aus dem Kantonsgebiet weggewiesen.

Ein Verfahren gab es gegen die Kartenschlägerin Marianne Katharina Lang, die sich unrechtmässig in Basel aufgehalten und acht jungen Mädchen an der letzten Messe (Stadtmarkt) je 30 Cents fürs Kartenlesen abgeknöpft habe.

Karl Christian Ischer, ein lateinischer Schulmeister in Thun beklagte sich im «Zirkularbuch» (1823-1826), dass auch Leute aus sogenannt guten Häusern noch hie und da zu Wahrsagerinnen gingen.

Ebenda berichtete Vikar Kramer in Thierachern: Eine Frau auf dem Sterbebett sagte, sie habe der Weissagung einer Wahrsagerin geglaubt, wonach ihr Mann vor ihr sterben werde und sie nochmals heiraten würde. Beinahe «zu spät» liess sie ein Sterbegebet lesen.

Der Lehrer Greter aus Rothenburg Luzern beobachtete um 1949, dass das Kartenschlagen und Wahrsagenlassen noch viel Glauben finde: «Wenn an einer Messe eine Person sich als Wahrsagerin auskündet, sehen wir viele aus unserer Gemeinde diesem Betruge ihr schönes Geld opfern.»

Wahrsagerei 2.0

Wer sich goldene Früchte, milde Himmelslüftchen, glatte Wege fürs Neue Jahr vollautomatisch weissagen lassen will, kann sich von «Le grand magicien» verführen lassen. Dieser Android der beiden Schweizer Jean-David und Julien-Auguste Maillardet, ein Kunstwerk der Feinmechanik des 18. Jahrhunderts, ist im Musée Internatonal d’horlogerie in La Chaux-de-Fonds zu bestaunen.

Literatur und Quellen

Letzte Änderung 17.01.2022

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