Flashback 125 NB – Die Anfänge des Anarchismus in der Schweiz

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2020 kennt man Saint-Imier und sein Tal vor allem für seine Uhren, seine Wind- und Photovoltaikparks und für seine Schokolade und weniger dafür, dass es die Wiege der Fédération jurassienne war, der ersten Erscheinung des Anarchismus in der Schweiz. Sie verschwindet kurz vor der Gründung der Schweizerischen Nationalbibliothek im Jahr 1895.

Mann mit Beinharnisch und einem am Rücken festgebundenen riesigen Kissen. Im rechten Arm trägt er eine Kanone und einen Säbel, im linken eine Matratze als Schild. Auf seinem Kopf thront eine Riesenschnecke, und eine Art Trompete zur Aufspürung der Anarchisten verlängert seine Nase.
Zur Vorsicht. Karikatur von 1884 publiziert im Nebelspalter
«Da wir nun wiederholt die Erfahrung gemacht haben dass sich die Anarchisten die Schweiz als ihren Agitations- und Vorbereitungsherd auswählen, wäre wohl für jeden Bürger ein solches Kostüm sehr zu empfehlen»
© Nebelspalter 70. Jg., Heft 41, 5. Oktober. 1944, Seite 51, Fritz Boscovits

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die industrielle Revolution auf ihrem Höhepunkt und führt zu einer neuen sozialen Schicht, der sogenannten Arbeiterklasse, die sich nach und nach organisiert, um ihre Interessen zu verteidigen, insbesondere in Arbeitervereinen und Hilfskassen.

Aktivisten aus verschiedenen europäischen Ländern gründen in London 1864 die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA, die sogenannte Erste Internationale). Geleitet von Karl Marx steht sie für die Einheit der Arbeiter gegen die herrschenden Klassen ein und vereint eine breite Palette politischer Strömungen. Sektionen der IAA entstehen überall in der Schweiz, meist dort, wo die Uhrenfabriken stehen (Neuenburger Berge, Jura, Genf…).

Die Fédération jurassienne entsteht aus der Konfrontation zweier Tendenzen: jener von Karl Marx, Mitglied des Generalrats (der Exekutive) der IAA, Kommunist und Verfechter des Zentralstaats, und jener von Michail Bakunin. Dieser vertritt die antiautoritäre Linie (Zerstörung und Abschaffung des Staates) und strebt den Kollektivismus an (Zusammenlegung der Produktionsmittel). Mit seinen Ideen überzeugt er die Uhrenarbeiter des Jurabogens. Am Kongress von Basel 1869 treten die Differenzen zwischen den beiden Parteien noch deutlicher zutage.

Das Ende des Zweiten Kaiserreichs und die Gründung der Pariser Kommune im März 1871 mobilisieren die Mitglieder der Internationale, die die Stunde der proletarischen Revolution gekommen sehen. Doch die Arbeiterbewegung wird in ganz Europa unterdrückt, es folgt die Desillusionierung. 

In diesen bewegten Zeiten wird am 12. November 1871 in Sonvilier, im Vallon de Saint-Imier, die Fédération jurassienne gegründet. Sie wird zu einer antiautoritären, sogenannt anarchistischen Bewegung (aus dem griechischen «anarchia – Herrschaftslosigkeit»). An den politischen Organen, die die Bourgeoisie bevorzugen, will sie sich nicht beteiligen. Sie pocht darauf, dass das Produkt der Arbeit voll und ganz den Arbeitern zukommen muss. Ihr Propagandaorgan ist das von James Guillaume herausgegebene Bulletin.

Am Kongress von Den Haag 1872 wird der Bruch zwischen den Marxisten und den Anarchisten vollzogen. In der Folge findet in Saint-Imier im September 1872 ein Kongress statt. Das Bulletin wird zum Sprachrohr der Debatte. Es sind vor allem folgende drei Erklärungen, die das neue politische Denken zusammenfassen:

«[…] Der Kongress von Saint-Imier erklärt:
1. Dass die Zerstörung jeder politischer Macht die erste Pflicht des Proletariats ist.
2. Dass jede Organisation einer angeblich provisorischen und revolutionären politischen Macht, die diese Zerstörung herbeiführen will, nur eine weitere Täuschung sein kann und für das Proletariat genauso gefährlich wäre wie alle heute existierenden Regierungen.
3. Dass die Proletarier aller Länder jeden Kompromiss zur Erreichung der Vollendung der sozialen Revolution ablehnen und die Solidarität der revolutionären Aktion ausserhalb jeder bourgeoisen Politik herstellen müssen.» (Bulletin der Fédération jurassienne, Nr. 17/18) 

Vom Klischee der gewalttätigen, skrupellosen Anarchisten sind die Mitglieder der Fédération jurassienne zu Beginn weit entfernt. Die Versammlungen der Aktivisten sind diszipliniert und ruhig. Der fast schon asketisch wirkende Anführer Adhémar Schwitzguébel stärkt die Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit der Bewegung.

In den folgenden Jahren entwickeln sich die Sektionen der Fédération. Sie führen die «gewerkschaftlichen» Aktivitäten, zu denen auch die Verbreitung anarchistischer Ideen gehören.
1876 beschliesst der Kongress von Bern, die Propaganda zu verstärken, die in gewalttätige Kundgebungen umschlägt. Die Aktivitäten zur Verteidigung der Arbeiter werden mehr und mehr vernachlässigt und machen der ideologischen Propaganda Platz. Konfrontiert mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten verlassen die Uhrenarbeiter die Bewegung.  Ohne sie existiert die Fédération jurassienne bereits 1881 nicht mehr als solche. Es bestehen lediglich noch anarchistische Gruppierungen, die Anschläge und Aufstände im ganzen Land organisieren.

Dokumentarische Quellen

Digitalisierte Presse

Fiktion

Referenzinstitution

Letzte Änderung 14.12.2020

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