Unlesbarem begegnet man im Archiv ebenso wie im Alltag: von der Kritzelei auf dem Notizblock bis zum Datensalat einer veralteten Textdatei, von chiffrierten Texten bis hin zu Phantasieschriften und Kalligrafien. Die 55. Ausgabe der Zeitschrift «Quarto» des Schweizerischen Literaturarchivs präsentiert solche Grenzfälle des Lesbaren aus den Beständen des Archivs und erläutert, in welchen Kontexten und Handlungszusammenhängen selbst das Unlesbare an Bedeutung gewinnen kann.

Die neuste Ausgabe von «Quarto» wartet mit einem für eine Literaturzeitschrift ungewöhnlichen Thema auf: Unlesbarkeit. Aus den Beständen des Schweizerischen Literaturarchivs werden Texte und Dokumente präsentiert, die sich aufgrund ihrer Beschaffenheit einer mühelosen Lektüre entziehen, sich kaum oder nur erschwert entziffern lassen, gerade dadurch aber auch faszinieren und zu Dechiffrierungs- und Kontextualisierungsverfahren anregen, die ihnen – wie die im Heft versammelten Beiträge zeigen – eine eigene Bedeutung verleihen.
Das Phänomen ist vielschichtiger und verbreiteter, als man im ersten Moment denkt, wie ein Blick in den Inhalt des Heftes verrät:
- In ihrem Überblicksbeitrag skizziert Andrea Polaschegg eine Kulturgeschichte des Unlesbaren, die stets auch mit dem Kryptischen und Enigmatischen verknüpft ist.
- Fabien Dubosson untersucht exemplarisch eine Phantasieschrift des Autors Jean-Marc Lovay.
- Christian Driesen taucht in das Dickicht von Kritzeleien ein und erläutert, wie sich reine Graphie ohne Bedeutung, wenn nicht lesen, so doch interpretieren lässt.
- Irmgard M. Wirtz präsentiert mit Erica Pedrettis palimpsestartigen Collagetexten ein ästhetisches Spiel mit Lesbarem und Unlesbarem.
- Magnus Wieland zeigt, wie die Technik des Übertippens auf der Schreibmaschine Unlesbarkeiten produziert, aber auch neue poetische Verfahren eröffnet.
- Reto Sorg situiert Robert Walsers berühmte Mikrogramme in der Kulturgeschichte des Kleinschreibens und zeigt, dass diese keineswegs ein Einzelphänomen darstellen.
- Philipp Hegel gibt einen historischen und methodischen Einblick in die heute kaum mehr lesbare Stenografie.
- Anna Stüssi untersucht, wie Ludwig Hohl vielfach mit Schreibweisen des Verbergens, Verrätselns und des Ungesagten spielt.
- Denis Bussard und Fabien Dubosson erläutern den Einsatz einer verklausulierten Geheimschrift in den Journaux intimes von William Ritter.
- Stefan Zweifel legt den verborgenen sadesken Subtext in Werken der Schweizer Literatur frei und macht ihn dadurch lesbar.
- Lucas Marco Gisi diskutiert den Zusammenhang zwischen unlesbaren und unendlichen Texten anhand von Franz Dodels Endlosgedicht.
- Daniela Kohler analysiert sprachmagische und kryptologische Bezüge in Otto Nebels Runendichtung.
- Annette Gilbert erörtert schliesslich artistische Verfahren der Steganographie im Zeitalter maschineller Lesbarkeit.
Drei literarische Beiträge ergänzen das Heft: Birgit Kempker geht in ihrem assoziationsreichen Eröffnungsessay der Frage nach: «Aber was heisst lesbar»; Rudolf Bussmann präsentiert seine Zettelwirtschaft und erklärt, weshalb er zur mitunter kaum mehr lesbaren Kleinschrift neigt; und Franz Dodel gibt eine Kostprobe aus seinem potenziell unlesbaren, weil endlosen Haiku-Poem Nicht bei Trost.