SNF-Projekt: «Jonas Fränkels Kryptophilologie»

Das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Projekt (2023–2027) «Kryptophilologie. Jonas Fränkels ‹unterirdische Wissenschaft› im historischen Kontext» widmet sich dem jüdischen Philologen Jonas Fränkel (1879–1965). Es wird in Zusammenarbeit mit der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich realisiert und ist verankert im Walter Benjamin-Kolleg der Universität Bern. Auf Basis umfangreicher Nachlassmaterialien werden erstmals die philologische Praxeologie und Methodik Fränkels im Kontext des wissenschaftlichen Wandels und der Zeitgeschichte untersucht.

Porträt Fränkel
Jonas Fränkel in späten Jahren (Foto: NB, Simon Schmid)

Jonas Fränkel, geboren 1879 in Krakau, gestorben 1965 bei Thun, wanderte nach ersten Studien in Wien um 1900 in die Schweiz ein und setzte sein Studium in Bern fort, wo er promovierte, sich habilitierte und 1921 ausserordentlicher Professor für deutsche Literatur wurde. Er trat als Herausgeber von Werken und Briefen deutschsprachiger Schriftsteller hervor, unter ihnen Goethe, Heine sowie Gottfried Keller und arbeitete ab 1907 eng mit Carl Spitteler zusammen, der ihn als persönlichen Nachlassverwalter, Herausgeber seiner gesammelten Werke und Verfasser seiner Biografie vorsah. An der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Carl Spitteler für das Jahr 1919 hatte Fränkel entschieden Anteil. Während seiner jahrzehntelangen, äusserst produktiven Arbeit als Literaturwissenschaftler in der Schweiz stand er daneben mit einer Vielzahl von bedeutenden Schriftstellern und Wissenschaftlern wie Walter Benjamin, Hermann Hesse, Ricarda Huch, David Koigen, Jean-Rudolph von Salis, Arthur Schnitzler, Margarete Susman oder Stefan Zweig in Kontakt.

Das bewegte Leben Fränkels ist jedoch mit einem dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte verbunden: Der jüdische Gelehrte litt zeit seines Lebens unter persönlicher und professioneller Ausgrenzung und antisemitischen Tendenzen in Presse, Politik und Wissenschaft. Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung gipfelte im Streit um den Spitteler-Nachlass. Beraten durch führende Schweizer Germanisten brachen die Töchter Spittelers nach dessen Tod mit Fränkel und schenkten den Nachlass 1933 der Eidgenossenschaft, die im Anschluss auf dem Prozessweg versuchte, die Vertragsbedingungen der Töchter umzusetzen: Fränkel vom Material fern- und vom Plan einer Gesamtausgabe abzuhalten sowie die bei Fränkel befindlichen Nachlassteile herauszufordern, was aber nicht gelangt. Die Spitteler-Dokumente verblieben im Krypto-Archiv bei Jonas Fränkel und waren somit wie der gesamte Gelehrtennachlass für die Forschung unzugänglich.

2021 wurde dieser historisch bedeutsame Nachlass samt dem Kryptonachlass von Carl Spitteler vom Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern übernommen und wird seither für die Forschung aufbereitet. Damit lässt sich Fränkels Konzept und Praxis der Philologie literaturwissenschaftlich und wissenschaftsgeschichtlich im historischen und politischen Kontext erstmals adäquat untersuchen und verorten.

Methodisch geschieht dies mithilfe des Begriffs des «Kryptischen». Zum einen leitet sich dieser daher, dass Spitteler bei Fränkel ein «Krypto-Archiv» angelegt hatte, also (bedeutende) Teile des Spitteler-Nachlasses im Fränkel-Nachlass überliefert sind. Was im Archivwesen als terminus technicus für (verborgene) Archivbestände in Fremdnachlässen gilt, soll im Rahmen des Projekts heuristisch auf Fränkels Philologie allgemein ausgeweitet werden. Sie kann als «kryptisch» gelten, weil sie sowohl von den philologischen Prinzipien als auch Arbeitstechniken auf ein transtextuelles Verständnis verborgener (biographischer wie werkästhetischer) Textbezüge angelegt ist.

Unter diesem Gesichtspunkt ist insbesondere auch Fränkels umfangreiche Bibliothek zu verstehen, die wesentlicher und integraler Teil des Nachlasses ist; in zahlreichen Büchern finden sich Einlagen (wie Briefe) und Lesespuren, die die Bibliothek zur «Genisa» machen, zu einem Repositorium zweiter Ordnung und als solche mit zu erforschen ist. 

Der Begriff des Kryptischen hat zudem einen historisch-politischen Aspekt, indem sich Fränkel aus zeithistorisch-politischen Gründen zunehmend abseits der offiziellen Fachdisziplin bewegen musste, seine Arbeitsweise damit oftmals im Verborgenen stattfand, weshalb Fränkel selbst in Bezug auf seine Arbeit auch von einer «unterirdischen Wissenschaft» sprach.


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