Die Manuskripte aus Paul Nizons frühen Berner Jahren zeigen bereits deutlich das Profil des literarischen Stadtforschers.
Von Ulrich Weber
Heute, mit bald 90 Jahren, wird er längst als einer der modernen europäischen Grossstadtautoren gelesen und gefeiert. Doch aufgewachsen ist er in der Länggasse, und seine ersten literarischen Gehversuche machte er in Bern. Nach seiner Matura (1949) schrieb Paul Nizon als Student der Kunstgeschichte und Museumsassistent nicht nur kunstkritische Aufsätze. Er erarbeitete sich auch allmählich das literarische Handwerk und entwickelte die Ansätze zu jener präzisen und zugleich virtuos-musikalischen Sprache, die sein reifes Werk auszeichnet. Fasst man die Fülle der frühen Manuskripte in Nizons Archiv genauer ins Auge, leuchtet bereits ein zentrales Motiv heraus: Die Stadt.
In seinem Versuch über das Sehen (1979) beschreibt Nizon seine Jugend rückblickend als Zeit der Ich-Gefangenschaft, Ich-Versunkenheit und der Blindheit, gegen die er sich gezielt zur Wehr gesetzt habe, indem er durch Jobs bei der Bahnpost oder als Velokurier den Kontakt mit der Aussenwelt suchte – «um sehen zu lernen». Die Spuren dieser Schule des Sehens sind im Archiv zu finden. Nizon beschreibt etwa das Casino als «Kasernen-Gebirge in Sandstein unter tief übergezogenem Mützendach», evoziert unter dem Titel «Bahnhofgelände», die «stählernen Schlangen der Schienen, wegschiessend geballte (…) Kraft», oder er schildert, wie unter der Nydeggbrücke Baumaschinen als Monster- oder Gladiatoren-Roboter Häuser niederreissen. Die Lust an der sprachlichen Gestaltung der Szene dringt aus den Zeilen. «Vorbereitungen zur Errichtung einer Stadtarchitektur in Prosa» - heisst es an anderer Stelle programmatisch.
Doch Bern beengte ihn auch: «Denn ein Burgverliess ist diese Stadt, und der Fluss, der sie umspült, ist ihr Burggraben»; sie nimmt die Lebensluft. Nizon erinnert sich später: «Ich spürte die Last des Steinkörpers nicht nur am Leibe, ich trug sie auf den Schultern, als ob ich unter Jochen und in Katakomben ginge. Ich sträubte mich gegen die steinerne Umarmung. Es war, als ob Bern mir die Welt vorenthielte.»
Nicht Stadtflucht war die Antwort: Frühe Besuche in Paris hinterliessen bleibende Eindrücke: «Seht – die Stadt: Ihr hört ihr Rauschen, ihr graues, wellenbewegtes, stimmenreiches Rauschen. Ihr fühlt nicht, ob es unten ist, auf dem Asphalt der bewegten Strassen, oder oben, wo der Himmel hineinfliesst in Zinnen, Mansarden und Blätter der Bäume.» Sie ist «endlos (…) und ohne Grenzen.»
Wieder die bilanzierende Erinnerung: «Seitdem zog es mich ans Licht der Weltstädte mit ihrer vitalen Polyzentrik, Pluralität, ihrer Unermesslichkeit.» Nizon findet dort «eine Anarchie, die den Einzelnen auszulöschen drohte, gleichzeitig aber mit einer sonderbaren Lebensgier ansteckte.» Der Weg führte nach Rom, Barcelona und London und schliesslich dauerhaft nach Paris: Die Metropole wurde ihm zur «Entbindungsanstalt» seines Schreibens. Der Rausch des orientierungslosen, sinnlichen Untertauchens in der Grossstadt ist in seinem Werk zugleich ein Sprachrausch, eine Euphorie der Bemächtigung dieser intensiven Welt, eine «Urbomanie», wie sie ihren Höhepunkt im Roman Das Jahr der Liebe (1979) erlebt.
Doch Nizon kehrt nicht nur zum Ausgangspunkt Bern zurück, um Preise entgegenzunehmen: Auch sprachlich nähert er sich der Herkunftsstadt wiederholt an, wenn er beispielsweise die Kindheit in der Länggasse beschreibt oder den Brücken Berns als «Landschaftsouvertüren» huldigt
Paul Nizon, geboren am 19.12.1929, lebt seit 1977 in Paris. Sein Werk erscheint im Suhrkamp Verlag. Am 4.12. findet um 18 Uhr in der Nationalbibliothek in Anwesenheit von Paul Nizon die Buchvernissage für die ihm gewidmete Nr. 47 von Quarto, Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs statt.
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Geburt eines «Urbomanen» (PDF, 623 kB, 03.12.2019)Der Bund, Montag, 2. Dezember 2019
Letzte Änderung 03.12.2019