Flucht und Segen

Aufgetaucht. Carl Spittelers russische Auszeit.

Von Magnus Wieland

Schreibhefte aus Petersburg mit Spittelers Entwürfen zum „Prometheus“. Foto Simon Schmid, Nationalbibliothek
Schreibhefte aus Petersburg mit Spittelers Entwürfen zum „Prometheus“. Foto Simon Schmid, Nationalbibliothek

Im reifen Alter liess Carl Spitteler seinen achtjährigen Aufenthalt als Hauslehrer im russischen Petersburg nochmals Revue passieren. Nicht allein aus dem Gedächtnis liess er die Vergangenheit aufleben, sondern mit Hilfe der gut hundert Briefe, die er vom August 1871 bis zum September 1879 aus der Fremde an seine Eltern geschrieben hat. Auf dieser Basis legte er auf vier Foliobögen handschriftlich eine „Chronologie (u. kurze Geschichte) meines Aufenthalts in Russland“ an. Äusserer Anlass für diese Erinnerungsarbeit war der Erhalt der Briefe von der Mutter Anfang Januar 1911. Der tiefere Grund für die akribische Aufarbeitung dürfte hingegen daran gelegen haben, dass Spitteler die Zeit in Russland als „das wichtigste Jahrzehnt der Entwicklung in weiter Fremde“ erlebt habe, wie er sich gegenüber C. F. Meyer einmal geäussert hat. Tatsächlich schreibt Spitteler als ergänzende Anmerkung über den Titel der Chronologie: „Wichtig, wenigstens für mich wichtig“, wobei das Wörtlein ‚mich‘ extra unterstrichen ist.

Weshalb verleiht der alternde Dichter dieser Jugendphase eine solche Bedeutung? Spitteler war damals wegen schwelender Konflikte mit seinem Vater ins Ausland aufgebrochen. Der autoritäre Vater hatte nicht nur andere politische Ansichten als sein Filius, vor allem hatte er auch andere berufliche Pläne mit dem künstlerisch veranlagten Sohn. Konnte er ihn schon nicht zur Jurisprudenz bewegen, so absolvierte Spitteler wenigstens ein Theologie-Studium. Als nach Abschluss aber ein Pfarramt im Bündnerland winkte, bekam er kalte Füsse und suchte das Weite. Die Mutter kam ihm zu Hilfe, die ihre Kontakte zum Generalleutnant Standerstkjöld nutzte, um dem Sohn einen Unterhalt in Petersburg zu verschaffen. Nach zwei Jahren eher mühselig empfundenen Unterrichts im Hause Standerstskjöld wechselte Spitteler, der anfänglich nie so lange in Russland zu verweilen dachte, zum Ehepaar von Cramer, wo ihm vor allem die musisch veranlagte Frau Adelaide von Cramer den Aufenthalt angenehm gestaltete. Mit ihr spielte er nicht nur vierhändig Klavier, sondern weihte sie auch in seine literarischen Pläne ein, von denen sonst niemand wusste.

Tatsächlich reiste Spitteler auch mit dem Vorsatz nach Petersburg, dort sein erstes Epos Prometheus und Epimetheus zu vollenden. Doch hielt er diese Absicht weitgehend geheim und korrespondierte nur mit dem befreundeten Journalisten und Schriftsteller Joseph Victor Widmann darüber. In den Briefen an die Eltern klammerte er hingegen alle Hinweise auf seine literarischen Ambitionen wohlweislich aus. Auch das vermerkt der Autor eigens auf dem Titelblatt der Chronik: „Vom Prometheus steht in den Briefen an meine Eltern kein Wort, absichtlich“ (‚kein Wort‘ ist doppelt unterstrichen). Spitteler gelingt es jedoch nicht, das Epos vor seiner Rückkehr – die signifikanterweise erst nach dem Tod seines Vaters erfolgt – fertigzustellen. Er ringt mit dem Stoff und gerät dabei in – wie er es selber nennt - eine „Variantenmühle“. Das heisst: es häuften sich die Entwürfe in den eigens in Russland besorgten Heften an, ohne dass ein Abschluss absehbar gewesen wäre. Aus dem Prometheus wurde, wie Spitteler selbst ironisch bemerkt, ein Sisyphus.

Der Band Prometheus und Epimetheus erscheint dann erst 1881. Für eine Generation von jungen Schriftstellern wird dieses Buch zur Offenbarung. Blaise Cendrars ist von der Lektüre begeistert und Rainer Maria Rilke schreibt: „Was für ein Dichter“ und versetzt ihn in den poetischen Olymp, „dort wo’s auf den grossen Namen nicht mehr ankommt, sage man nun Dante oder Spitteler“.

 

Carl Spitteler (1845–1924) erhielt 1919 den Literaturnobelpreis für sein Versepos Olympischer Frühling, ist aber vornehmlich noch durch seine Neutralitätsrede Unser Schweizer Standpunkt bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges bekannt. Sein umfangreicher Nachlass liegt heute im Schweizerischen Literaturarchiv, aus dem auch die Dokumente seines Russlandaufenthalts stammen, die flankierend zur aktuellen Ausstellung „Rilke und Russland“ in der Schweizerischen Nationalbibliothek zu sehen sind.

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