L’Ultima Cena: Ein To(r)tenmahl für den Nouveau Réalisme

Inmitten des Konsumrauschs der beginnenden 1960er-Jahre schliesst sich der rastlose Daniel Spoerri (*1930) in Paris den «Nouveaux Réalistes» an und findet in der Poesie des Alltäglichen eine künstlerische Ausdrucksform. Zehn Jahre später versammelt er die Künstlergruppe um den Kunstkritiker Pierre Restany in Mailand zu einem «letzten Abendmahl».

Von Lisa Oberli

Menükarte Ultima Cena
Pierre Restany und Martial Raysse signieren die Menükarte L’Ultima Cena, 19.11.1970 (Foto: NB, Simon Schmid)
© Bernd Jansen

Das weltbekannte Fresko «L’Ultima Cena» von Leonardo da Vinci schmückt den Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand und zeigt Jesus mit den zwölf Aposteln beim letzten Abendmahl am Vorabend seiner Kreuzigung. Die dargereichten Speisen sind karg. Jesu' Enthüllung – ¬«Einer ist unter euch, der mich verrät» – versetzt die Figurengruppe in Aufregung. In zwanzigminütiger Gehdistanz zu dieser berühmten Wandmalerei, in der belebten Passage Galleria Vittorio Emanuele II., liegt das Restaurant Biffi. Am 19. November 1970 wird es zum Schauplatz des «Banchetto funebre del Nouveau Réalisme», des letzten Abendmahls für den Nouveau Réalisme. Als Drahtzieher dieser an Üppigkeit kaum zu überbietenden Eucharistiefeier einer Künstlergruppe fungiert der Schweizer Erfinder der Eat Art Daniel Spoerri. In den Hauptrollen wirken der Kritikerpapst Pierre Restany und dessen Jüngerschaft, die Nouveaux Réalistes: Arman, César, Christo, François Dufrêne, Raymond Hains, Niki de Saint Phalle, Martial Raysse, Mimmo Rotella, Jean Tinguely, Jacques de la Villeglé und der bereits 1962 verstorbene Yves Klein.  

Torten
Torte für César [links] und Torten für Niki de Saint Phalle [rechts] (Foto: NB, Simon Schmid)
© Ad Petersen (Foto links), Bernd Jansen (Foto rechts)

Ob tot oder lebendig – jedem Mitglied der Gruppe kredenzt Spoerri an einem eigenen Tisch ein opulentes Festmahl in Anspielung auf dessen künstlerisches Werk. Jede und jeder der Nouveaux Réalistes lädt wiederum die eigene Anhängerschaft zum berauschenden Sakrament ein. Als Menükarte und zugleich Verkündung des bevorstehenden Sterbens dient eine 70 x 100 cm grosse Lithografie in Schwarz und Silber, die wie eine riesige Trauerkarte gestaltet ist. Nach drei Manifesten (1960, 1961, 1963) und der Gründungserklärung ist sie das letzte Dokument, welches die Nouveaux Réalistes unterzeichnen; selbst für Yves Klein signiert post mortem dessen Witwe Rotraut mit einem «x pour Yves». Eine Auferstehung der zehn Jahre zuvor in Kleins Pariser Wohnung konstituierten Künstlergruppe findet hingegen nie statt.

Verrat am Kritikerpapst

Es ist der französische Kunstkritiker Pierre Restany, welcher den Nouveau Réalisme ab 1960 prägt und sich fortan als dessen Apologet versteht. Schon in der Gründungserklärung der Gruppe versucht er die differenzierenden Stile der beteiligten Künstler rhetorisch unter einen Hut zu bringen: «Die neuen Realisten sind sich ihrer kollektiven Einzigartigkeit bewusstgeworden. Nouveau Réalisme = neue Annäherung der Wahrnehmungsfähigkeit an das Reale». Die von Restany beschworene Einigkeit in der Vielfalt ist ein Bekenntnis zu einer gesellschaftskritischen Kunst. Im Wohlstand und Konsum der 1960er-Jahre stellen die Nouveaux Réalistes die banale Lebensrealität und die Relikte des Alltags spielerisch-ironisch ins Zentrum ihrer Kunst. Subjektive Ausdrucksformen abstrakter Kunst lassen sie hinter sich. Und doch ist es weniger Restanys kunsttheoretischer Überbau, welcher die Gruppe zusammenhält. Es sind vor allem die Kontakte, Freundschaften, gemeinsamen Aktionen und Ausstellungen in den Städten Mailand, Paris, Nizza, New York, Köln oder München. Trotz des Erfolgs im internationalen Ausstellungsbetrieb der Jahre 1961–63 kritisieren die Mitglieder Restanys wortreiche Legitimationsversuche der Künstlergruppe als Einheit. 1961 unterzeichnen Klein, Hains und Raysse eine Austrittserklärung – beteiligen sich aber weiterhin an Aktivitäten. 1963 fordert Arman eine «Derestanysierung» der Gruppe.

Die Papstkrone

Ultima Cena-lo
Torte in Form einer Papsttiara für Pierre Restany, 1970 (Foto: NB, Simon Schmid)
© Lothar Wolleh Estate, Berlin (Originalfotos: Lothar Wolleh)

Beim frivolen letzten Abendmahl wird indes nochmals Verbundenheit zelebriert. Werden am christlichen Abendmahlstisch durch das Verspeisen von Brot und Wein Leib und Blut Jesu vergegenwärtigt, ist das letzte Abendmahl Spoerrischer Prägung ganz auf die Konsumation, Verdauung und Reflexion der heterogenen Werke der Nouveaux Réalistes ausgelegt. Die Festspeisen sind assoziationsreich zubereitet: Dem Akkumulationskünstler Arman werden haufenweise Aale in durchsichtigem Aspik vorgesetzt. Das Menü des Verpackungskünstlers Christo ist von Alufolie verhüllt. Hauptsächlich werden aber ambitiöse Tortenkreationen gereicht, die mit Unterstützung der Mailänder Panettone-Firma Motta entstehen. Die imposanteste von allen gebührt Pierre Restany. Sie stellt eine 70 cm hohe Papsttiara mit weissem Marzipanüberzug, vergoldeten Blütenblättern und farbigen Edelsteinen aus Zuckerguss dar. Das Anschneiden der Torte überlässt der listige Restany Daniel Spoerri. So ist es dieser, welcher dem Kritikerpapst am letzten Abend mit einem kräftigen Messerhieb die Krone vom Haupt schlägt.  

Daniel Spoerri, 1930 in Galati, Rumänien geboren. Nach einer tänzerischen Ausbildung ab 1949 und Betätigungen als Tänzer, Choreograph, Regisseur und Herausgeber beginnt der Autodidakt ab 1960 eine Karriere als bildender Künstler. 1960 ist er Gründungsmitglied der Künstlergruppe Les Nouveaux Réalistes und wird international bekannt mit seinen Tableaux-pièges (Fallenbildern). In den 1960er-Jahren etabliert sich Spoerri als Kochkünstler und wird zum Begründer der Eat Art.

Literatur und Quellen

Veranstaltungen

Letzte Änderung 08.02.2021

Zum Seitenanfang

Kontakt

Schweizerische Nationalbibliothek
Graphische Sammlung
Hallwylstrasse 15
3003 Bern
Schweiz
Telefon +41 58 462 89 71
E-Mail

Kontaktinformationen drucken

https://www.nb.admin.ch/content/snl/de/home/ueber-uns/gs/augenweiden/ultima-cena.html