Preussische Präzision vor Ruine Haldenstein

In den 1890er-Jahren eroberte das in Preussen etablierte Messbildverfahren die Schweiz. Das Archiv von Rudolf Fechter in der NB zeigt auf, mit wie viel Enthusiasmus und Ernsthaftigkeit das gebaute Erbe der Schweiz damals dokumentiert wurde und die Denkmälerinventarisation beförderte.

Von Isabelle Kirgus

Burgruine Haldenstein
Eines der ersten Photogramme, das in der Schweiz entstand: Burgruine Haldenstein mit Messpunkten und Zahlen, 1896
© Archiv Rudolf Fechter / Foto: NB, Simon Schmid

Als Rudolf Fechter 1896 mit Kamera und Stativ vor der Burgruine Haldenstein nahe der Stadt Chur steht, ist das Wetter mässig gut. Er notiert: «Ziemlich trüb. Wenig Sonne». An diesem Tag macht er dennoch 40 fotografische Aufnahmen und vermerkt die Zahlenkolonnen seiner Messergebnisse akribisch im Protokollbüchlein. Fechter, 1840 in Basel geboren und 1902 daselbst gestorben, hat sich erst im zweiten Beruf als Architekt ausgebildet und mit Herzblut der Baukultur, dem vaterländischen Bauerbe, verschrieben. Im Vorstand der «Schweizerischen Gesellschaft für Erhaltung historischer Kunstdenkmäler», der Vorgängerin der «Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte», engagiert sich Fechter über alle Massen, und er kann als Schweizer Pionier in der Anwendung eines neuartigen Aufmassverfahrens in der Bautendokumentation, dem Messbildverfahren, gelten. 

Preussische Innovationslust

Entwickelt worden war das Verfahren um 1865 im entfernten Preussen. Dort herrschte zu jener Zeit ein regelrechter Gründerboom, in immenser Zahl und Kadenz eingehende Patentanmeldungen heizten den technisch-industriellen Fortschritt an. Mittendrin war auch Albrecht Meydenbauer vom Erfindungs-Fieber ergriffen: Er tüftelte im brandenburgischen Rathenow zusammen mit dem weltoffenen Emil Busch in dessen Firma für optische Geräte nach einer Lösung für die fotografische und zugleich messbare Erfassung von Gebäuden. Der Einsatz des zeitgleich unter der Firmenleitung von Busch entwickelten Pantoscops (Weitwinkelobjektiv) war schliesslich der Befreiungsschlag für den Beginn der Photogrammetrie. In der Folge begann eine beispiellose Reihe von Aufnahme-Kampagnen von Baudenkmälern, die mit Verspätung auch in der Schweiz einsetzte.

Mentor Meydenbauer

Längen- und Winkel-Messungen
Längen- und Winkel-Messungen der Burgruine Haldenstein auf Grundlage von Messbildern, 1896
© Archiv Rudolf Fechter / Foto: NB, Simon Schmid

Es war Meydenbauer selbst, der zusammen mit Fechter im Kanton Graubünden die ersten Schweizer Photogramme von Bauwerken erstellte. Beim Anblick der in unwegsamem Gelände stehenden und mit steil abfallendem Mauerwerk beeindruckenden Burgruine Haldenstein wird die Wirksamkeit des neuen Verfahrens überdeutlich: Die Vermessung des Gesteins am Gebäude selbst hätte durchaus mit dem Verlust von Leib und Leben bezahlt werden können. Aus der Ferne aber, an günstigen Standorten aufgestellt, nahm die technisch aufgerüstete Kamera von Meydenbauer – berührungs- und angstfrei – Bild um Bild der Mauer auf. So konnten äusserst scharfe und mit Messpunkten versehene Negative auf Glasplatten erzeugt werden, die sogenannten Photogramme oder Messbilder. Diese bildeten die Grundlage für die geometrische Bauzeichnung, die aus verschiedenen mathematischen Berechnungen resultierte. 

Photogrammetrischer Ver-Fechter in der Schweiz

Grundriss Kathedrale Chur
Grundriss der Kathedrale in Chur mit Standpunkt der Kamera und Aufnahmewinkel, 1896
© Archiv Rudolf Fechter / Foto: NB, Simon Schmid

Die gemeinsame Zeit in Graubünden wirkte lange nach: Bis ins Jahr 1900 korrespondierten Fechter und Meydenbauer, vornehmlich natürlich über aufnahmetechnische Finessen. Mit der Gründung der Gesellschaft für Photogrammetrie (und Fernerkundung) 1928 und dem Angebot von Hochschulkursen zur Architektur-Photogrammetrie an der ETH Zürich seit den 1930er-Jahren war das Verfahren etabliert. Fechters Erben hatten seinen Nachlass 1917 dem Archiv für historische Kunstdenkmäler im Schweizerischen Landesmuseum übergeben, darin enthalten zwei «Meydenbauer-Kameras». 1977 gelangten diese zusammen mit dem schriftlichen Nachlass von Fechter in das Eidgenössische Archiv für Denkmalpflege, das seit 2007 zur Graphischen Sammlung der Nationalbibliothek gehört. Bis heute sind die Kameras weltweit die einzigen überlieferten Exemplare dieses preussischen Geniestreichs, der die Bauaufnahme und damit die Voraussetzungen für die denkmalpflegerische Dokumentation, Restaurierung und Wiederherstellung revolutionierte.

Albrecht Meydenbauer, dessen 100. Todestag 2021 ansteht, wurde 1834 im saarländischen Tholey geboren. In seiner Funktion als Geheimer Baurat im Preussischen Ministerium für geistliche Angelegenheiten setzte sich der Bauingenieur intensiv für die bildliche Dokumentation von Baudenkmälern ein; das umfangreiche Bildmaterial bildete den Ausgangpunkt für die königlich-preussische Messbild-Anstalt, die erste ihrer Art weltweit, deren Gründungsdirektor Meydenbauer war. 

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Letzte Änderung 13.07.2021

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