Kursäle sind in der Architekturgeschichte eine wenig beachtete Baugattung. Die Graphische Sammlung bewahrt seit 1983 den wertvollen Bestand von Original-Plänen des Kursaals Interlaken auf. Die vom Neuenburger Architekten Paul Bouvier zwischen 1897–1910 aufwändig gestalteten Pläne zeigen den hohen Stellenwert, den Freizeitgestaltung schon um 1900 genoss.
Von Kathrin Gurtner
In der Blütezeit der Belle Epoque macht sich der Neuenburger Architekt Paul Bouvier (1857–1940) einen Namen auf dem Gebiet der «ephemeren Architektur», zum Beispiel mit der Projektierung von Pavillons für Landesaussstellungen. Die dabei entwickelte Architektursprache mit Hauptmotiven wie Dachreitern und Berner Ründen lässt Bouvier in sein Hauptwerk, den Kursaal in Interlaken, einfliessen. Dieser ersetzt ab 1902 in Etappen den Vorgängerbau aus der Gründerzeit.
Molke und Rösslispiel im ersten Kursaal
Der um 1850 in der Schweiz aufkommende Tourismus löst eine rege Bautätigkeit aus. Nebst Bahnen und Hotels entstehen auch etliche Kursäle, die durch ihre repräsentative Gestaltung oft den Mittelpunkt eines Kurortes markieren. Durch die betont «modische» Architektur dienen Kursäle auch der Selbstdarstellung des jeweiligen Kurorts.
Die Geschichte des Kursaals Interlaken beginnt 1858, als initiative Bürger das Grundstück des ehemaligen Augustinerklosters «inter lacus» kaufen, um darauf eine Kur- und Molkeanstalt sowie ein Gesellschaftshaus mit schönster Sicht auf die Jungfrau zu errichten. Bereits 1859 eröffnet der Molke-Kurbetrieb – ein reiner Holzbau, der wohl in der Chalet- und Parkettfabrik Interlaken entworfen und teilweise industriell vorgefertigt worden ist.
Die Freude über das neue Bauwerk und das sich darin entfaltende Gesellschaftsleben, bei dem das Glückspiel eine wichtige Rolle spielt, ist allerdings von kurzer Dauer. Nur einen Monat nach der Eröffnung wird der Kursaal aufgrund des Verbots von Glücksspielen geschlossen. Trotz dieses Tiefschlags gründen die Interlakner eine Kurhausgesellschaft, der es gelingt, den Betrieb in Gang zu halten. Seit 1883 ist nämlich mit dem «Rössli-Spiel», bei dem Blechpferdchen auf Rundgeleisen um die Wette «fahren», eine lukrative Einnahmequelle gefunden.
«…ächt schweizerisch, spezifisch bernisch»
1898 wird die Molke-Kuranstalt wegen mangelnder Hygiene geschlossen. Der Zeitpunkt für eine Umgestaltung zu einem reinen Gesellschaftsgebäude ist damit gekommen. Verschiedene Architekten werden angefragt, unter anderen Paul Bouvier, der mit seinem «Village Suisse» an der Landesausstellung in Genf 1896 grosse Erfolge gefeiert hat. Noch im gleichen Jahr legt er sein Projekt vor.
Die rund 360 Pläne und Skizzen, die in der Graphischen Sammlung aufbewahrt werden, zeigen, dass für die Projektierung des Kursaals kein Aufwand gescheut wurde. Einige sind aquarelliert, andere zur besseren Anschaulichkeit mit Goldpapieren oder aufgeklebten Kronleuchtern in Szene gesetzt. Gottlieb Mey, Architekt des Musikpavillons und Mitglied der Kurhausgesellschaft preist das Projekt denn auch mit den Worten: « […] hübscher Kuppelbau […] die verwendeten Motive sind ächt schweizerisch, spezifisch bernisch. Reiche Glas- und andere Malereien werden dem Ganzen einen sehr stylvollen Stempel aufdrücken.»
Bouvier plant in der weitläufigen Parkanlage einen Komplex mit vielfältigem Raumprogramm, der insgesamt an Palastarchitektur erinnert. Über ausladende Terrassen gelangen die Besuchenden zunächst in die «Hall Couvert», die von breiten Galerien flankiert ist, dann durch den zentralen Kuppelbau in das «Grand Dégagement», das als Verbindungselement zum Salon und der eleganten Bar dient. Über eine Quer-Halle ist der üppig ausgestattete Konzert- und Theatersaal zu betreten.
Obwohl Bouvier kein heimischer Architekt ist, knüpft er mit seinem Projekt an die Architektur der Umgebung an. Er nutzt die landschaftlichen Gegebenheiten und bedient sich regionaler Architekturzitate wie Berner Ründe und Dachreiter. Im Innern verwendet er handwerkliche Techniken, die aus der Bauernmöbel-Herstellung bekannt sind, wie Schnitzereien und mit Ölfarben kolorierte Brandzeichnungen auf Holz.
Daneben arbeitet Bouvier mit Mitteln der Raum- und Dekorationskunst aus aller Welt. Ausser der herrschaftlichen Farbigkeit von rotem Stuckmarmor, Crème- und Goldtönen im ganzen Gebäude, gibt es neubarocke Stuckaturen, florale Motive aus dem Jugendstil, eine klassizistische Kassettendecke mit dunkelblauen Füllungen im Spielsaal und Motive aus dem fernen Osten. Um dieser Opulenz die Krone aufzusetzen, sind in der Rotunde und im Theatersaal verschwenderisch Glühbirnen eingebaut.
Diese Vielfalt macht den Kursaal Interlaken zu einem der interessantesten Beispiele aus dem Stilschmelztiegel um 1900, als unterschiedlichste Baustile kombiniert und verschmolzen wurden.
Paul Bouvier, 1857 in Neuchâtel geboren, 1940 ebenda verstorben. Nach Studien in der Schweiz wechselt er an die Ecole des Beaux Arts in Paris, wo er 1877 sein Diplom in Architektur und Kunst erlangt. Ausgedehnte Reisen führen ihn durch Italien, Frankreich und Nordafrika. Ab 1887 spezialisiert er sich auf Ausstellungsarchitektur. Nach Abschluss der Arbeiten am Kursaal Interlaken, widmet sich Bouvier ab 1910 nur noch der Malerei. Bouvier ist gesellschaftlich gut vernetzt, unter anderem als Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission von 1907–1909.
Literatur und Quellen
- «Die Schweiz - ein riesengrosser Kursaal» Frei nach Alphonse Daudet: Tartarins Reise in die Schweizer Alpen. Übersetzung: Walter Widmer, Illustrationen: Ruedi Barth. Bern-Bümpliz: Albert Züst Verlag, 1945.
- Martin Fröhlich: «Kursäle – in Interlaken und anderswo. Umrissskizzen einer Baugattung», in: Unsere Kunstdenkmäler 40/1989, Heft 2, S. 154-169
- Martin Fröhlich: Der Kursaal, Interlakens gute Stube, Planungs- und Baugeschichte 1858-1986, Interlaken: Casino Kursaal AG, 2007.
- «…ächt schweizerisch, spezifisch bernisch» aus Bericht zur Generalversammlung der Kurhausgesellschaft Interlaken, in: Seeländer-Bote Nr. 135, 10.11.1898, Biel: F.J. Gassmann, 1898.
Letzte Änderung 05.09.2022
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