Der Künstler im Zirkus

Marc Gonthier (1895–1954) hinterlässt 70 Jahre nach seinem Tod ein technisch und inhaltlich umfangreiches und vielfältiges druckgrafisches Œuvre. Es umfasst See- und Berglandschaften rund um den Genfersee, arbeitende Bauern in Bern, aber auch das schillernde und spektakuläre Treiben des Zirkus’.

Von Kristina Pfister

Der Zirkus ist ein Ort des Fantastischen, der Verblüffung, aber auch der Illusion, des Trügerischen und des Scheins. Artisten manipulieren, formen und täuschen die momentane Wahrnehmung ihres Publikums. Die Zirkus- und Jahrmarktszenen bilden einen besonderen Teil des Œuvres von Marc Gonthier. Sie zeugen von seiner ungebrochenen Faszination für die exzentrische Vielfalt des Zirkuslebens.

Eine Arena bei Nacht

Gonthier Arene
Marc Gonthier: «Arène»; Holzstich auf Papier Vergé, 1936

Auf dem Holzstich «Arène» führen zwei Akrobaten auf einer beleuchteten Bühne ein waghalsiges Kunststück vor: Einer balanciert auf dem Kopf des anderen. Kopfüber und die Hände und Beine ausgestreckt, scheint er zu schweben. Die Bühne, auf der stirnseitig die Buchstaben «MG» prangen, wird mit Scheinwerfern beleuchtet. Zwei Trapeze und der knapp geöffnete, noch in Bewegung begriffene Vorhang versprechen dem Publikum weitere Höhenflüge und verblüffende Kunststücke. Im linken Zuschauerraum reflektieren die Gesichter der Zuschauenden das künstliche Licht. 

Gonthier Arene
Detail aus dem Holzstich «Arène»

Es sind jedoch keine Gesichtszüge ausgearbeitet. Die Gesichter des Publikums wirken wie Lichtpunkte in einer dunklen Masse. Sie sind das kompositorisch und inhaltlich verbindende Element zwischen dem Publikum und den Artisten auf der Bühne. Der Kontrast zwischen Schwarz und Weiss, welcher durch die satte Druckfarbe und das künstliche Licht der Scheinwerfer entsteht, harmoniert mit der inszenierten Dramatik auf der Bühne. Marc Gonthier selbst ist Betrachter dieses waghalsigen Kunststücks. Er hat die Perspektive eines Zuschauers der Vorstellung eingenommen und beobachtet sowohl das Publikum, als auch die Akrobaten auf der Bühne. Als Autor der Druckgrafik gibt er diese Erfahrung den Betrachtenden seiner Grafik weiter. Der Künstler wird selbst zum Regisseur des Blickes. Nicht der Balanceakt der Artisten auf der Bühne ist daher für die Bildaussage zentral, sondern der Austausch, die Dynamik und das verbindende Element zwischen den Betrachtenden und den Zirkusartisten. 

Zirkus als Motiv

Gonthier Chiromancienne
Marc Gonthier: «Chiromancienne» (Handleserin); Holzstich auf Papier Vergé, 1948

Gonthier hat viele weitere Drucke geschaffen, die seine Faszination am Zirkus ins Bild bannen. Auch die Besuchenden des Jahrmarkts auf den beiden Werken «Chiromancienne» und «Voyante extralucide» lassen sich von der Handleserin oder der Wahrsagerin ein übersinnliches Moment vorgaukeln und werden bereitwillig Teil des Scheins. Aufgrund der Komposition – Artisten und Zuschauende werden als Einheit gezeigt – sind beide für eine bestimmte Zeit, nämlich für die Dauer des Kunststücks, Verbündete. Bridget Alsdorf beschreibt dies in ihrem 2022 erschienen Buch «Gawkers»: Die Spiegelung und Umkehrung zwischen den Akrobaten und den Schaulustigen verdeutlicht die enge Verbindung zwischen der Schaulust und der Produktion und Wahrnehmung von Kunst.

Die Kunst der Illusion

Gonthier Voyante
Marc Gonthier: «Voyante extralucide» (Hellseherin); Holzstich auf Papier Vergé, 1946

Die Akrobaten und Akrobatinnen sind abhängig von der Gunst des Publikums, während dieses sich staunend von der Illusion leiten lässt. Die Schaulustigen werden so zu Objekt und Empfänger der Vorstellung. Die Kunst der Illusion entsteht immer wieder neu in der Wahrnehmung der Zuschauenden.

Gerade in der Kunst werden Prozesse der Illusion möglich gemacht. Der Künstler beeinflusst durch die Art und Weise seiner Arbeit – beim Schneiden der Holzplatte mit Griffel und Stichel ist es ein tatsächliches Formen des Materials – die Wahrnehmung seines Publikums, also der Betrachtenden des Blattes. Ausgehend von der Technik des Holzschnitts, erklärt sich auch Gonthier zum Meister der Illusion. Er stellt die Szenen so dar, dass er durch meisterhafte Schraffuren scheinbare Bewegungen des Vorhangs suggeriert, wie es bei «Arène» der Fall ist. Selbstverständlich signiert er das Blatt oben links mit seinen Initialen «MG», und er schreibt sich auch zentral auf der vorderen Seite der Bühne ein. Diese Ansicht hat auffällige Ähnlichkeiten mit einer Holzplatte selbst. 

Gonthier Druckplatte
Marc Gonthier: Druckstock zu «Arène», Holzstich in Stirnholz, 1936 (Foto: NB, Simon Schmid)

Gonthiers Bildregie in «Arène» ist eine Gleichsetzung von Zirkusartist und bildendem Künstler. Er vermittelt die enge Verbindung zwischen der Produktion von Kunst und der Kunstbetrachtung, wobei sich das Kunstwerk erst durch die Betrachtung, also innerhalb dieses Austausches von Betrachtenden und Künstler, vollends entfalten kann. Die Fähigkeit des Künstlers wird daran gemessen, wie gut er die Wahrnehmung des Betrachters modelliert. Gonthier gelingt dies in diesem Werk vortrefflich. 

Marc Gonthier wurde am 6. März 1895 als Robert Alfred Gonthier in Lausanne geboren. 1913 bis 1915 Schüler an der École des Beaux-Arts in Genf. Ab 1917 zweijähriger Aufenthalt und Ausbildung in Oschwand (BE) bei Cuno Amiet. 1920 erstes von drei Stipendien der Commission Fédérale des Beaux-Arts. Er fand in Lausanne ein Atelier bei Mon-Repos und wurde Mitglied der Société des peintres, sculpteurs et architectes Suisses (SPSAS). Teilnahme an nationalen Kunstausstellungen in Genf, Bern und Zürich. 1953 stellte er in Verbindung mit der Künstlervereinigung «Xylon» aus. Überdies wurde er Mitglied der Künstlervereinigung «Tailles et Morsures» und «Der graphische Kreis». Marc Gonthier verstarb am 16. September 1954 unerwartet mit erst 59 Jahren.

Literatur und Quellen

Letzte Änderung 06.06.2024

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