Flashback 125 NB – Der Käfigturmkrawall als Spiegel der Arbeiterkonflikte

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Die NB wurde vor 125 Jahren gegründet. Wie sah die Schweiz damals aus? Was bewegte die Menschen? Welches waren die Tendenzen? Die tiefen Gräben zwischen den gesellschaftlchen Klassen und die explosive Atmosphäre in der Arbeiterschaft ums Jahr 1895 ist das Thema im Monat Juni.

Der Käfigturm bei Nacht
Die grün beleuchtete Westfassade des «Käfigturms», aufgenommen am 17. März 2018 während der Museumsnacht (Wikimedia Commons)

Die Gründung der Schweizerischen Nationalbibliothek – damals Landesbibliothek – 1895 fiel in eine Zeit rasanten Wachstums und forcierter Urbanisierung der Schweiz: Zwischen 1850 und 1910 hat sich die städtische Bevölkerung gut versechsfacht. Diese Entwicklung war gekennzeichnet durch Phasen der Hochkonjunktur und der Krise. Strukturell bildete sich eine Gesellschaft heraus, die im Wesentlichen in die drei Klassen Bürgertum, Bauern und Arbeiter gespalten war. Verbunden durch wenig Gemeinsamkeiten, zeigten sich Gegensätze auf wirtschaftlcher, politischer und ideologischer Ebene. Sie führten zu Spannungen, die sich in Streiks und sozialen Unruhen manifestierten. Als Beispiel für letztere ging der Berner Käfigturmkrawall vom 19. Juni 1893 in die Geschichte ein.

Am 17. Juni erschien im «Stadtanzeiger» ein anonymes Inserat, das für Montag, den 19. Juni, auf eine «Maurer- und Handlanger-Versammlung» aufmerksam machte. An diesem schwülen Sommertag traf eine Gruppe ein, die ins Kirchenfeld zog, wo es auf Baustellen zu Schlägereien mit italienischen Bauarbeiten kam. Gegen sie richtete sich der Vorwurf, sie seinen «Lohndrücker», da sie für 24 bis 26 Rappen pro Stunde arbeiteten, währen sonst 28 bis 32 Rappen Stundenlohn bezahlt wurden.

Die Polizei, die das Geschehen beobachtet hatte, nahm Verhaftungen vor und führte die Arrestanten in den Käfigturm. Dort kam es zu Strassenschlachten zwischen Arbeitern, die die Gefangenen zu befreien suchten, und der Polizei, welche durch Feuerwehr und bewaffnete Bürgerwehren unterstützt wurde. Der Tumult löste sich auf, nachdem der Stadtpräsident eigenmächtig Truppen angefordert hatte, die gegen Mitternacht aus Thun eintrafen.

Sowohl die gegen die Arbeiter eingesetzten Polizisten als auch die aufgebotenen Soldaten stammten vom Land. Mit dem Proletariat verband sie nichts, es sei denn die Armut. Die explosive Atmosphäre, aus welcher der Käfigturmkrawall sich entzündete, hatte ihre hauptsächliche Ursache in der prekären Wohnsituation in den übervölkerten Arbeiterquartieren. Typisch für Zeiten sozialer Destabilisierung ist aber auch der Rückgriff auf «National-Patriotisches», um einen neuen Konsens herzustellen. Fremdenfeindlichkeit erscheint in diesem Zusammenhang als Negativform dieses Phänomens: Russenhass bei der Bourgoisie (Arbeitersekretär Wassilieff war gebürtiger Russe) und Italienerhass bei den Arbeitern.

Unter den Polizisten und den Arbeitern gab es in der Krawallnacht je 30 Verletzte. Als «Sieger aus der Schlacht» ging das Bürgertum hervor, das in der derselben Nacht des 19. Juni ein rauschendes Fest feierte, um Geld für das Bubenbergdenkmal zu sammeln. Auch politisch wirkte sich der Krawall für das Bürgertum zunächst günstig aus: Bei den Grossratswahlen im Mai 1894 mussten die Stadtberner Sozialdemokraten Verluste hinnehmen, zwei prominente Mitglieder wurden nicht wiedergewählt. Doch schon im Oktober 1894 sammelten die Berner Gewerkschaften innert weniger Stunden die nötigen Unterschriften für eine städtische Proporzinitiative, die dann auch angenommen wurde.

In der Folge nahm die Vertretung der Arbeiterschaft im Stadtparlament und in der Stadtregierung rasch zu. Während der nächsten Jahrzehnte setzte sich dieser Prozess der verstärkten Repräsentanz der Arbeiterbewegung auf kantonaler und eidgenössischer Ebene fort.

In seiner Botschaft vom 8. März 1893 «betreffend die Gründung einer schweizerischen Nationalbibliothek» nennt der Bundesrat die «socialdemokratische Bewegung» als einzige politische Kraft ausdrücklich beim Namen. Es lässt sich darin das Bemühen der (progressiven) Patrioten der Zeit erkennen, ihr Projekt politisch möglichst breit abzustützen – auch in der Arbeiterschaft, die damals noch kaum ins politische System der Schweiz integriert war.

Peter Anliker: Klassenkampf zwischen Bauern und Arbeitern. In: Der kleine Bund 144. Jg., Nr. 106 vom 8. Mai 1993, S. 7.

Letzte Änderung 29.06.2020

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