Bitte Stillhalten!

Vor sechzig Jahren verstarb der Schweizer Literaturwissenschaftler Jonas Fränkel auf der Riedegg bei Thun. Sein Nachlass erweist sich als philologischer Jahrhundert-Fund.

Von Malte Spitz

Erst 2019 nahmen die Nachkommen den Kontakt mit dem Schweizerischen Literaturarchiv auf und übergaben einen der bestgehüteten Nachlässe der Schweizer Literaturgeschichte der Öffentlichkeit: von Jonas Fränkel. Der Schweizer Literaturwissenschaftler war u.a. eng mit Carl Spitteler befreundet und ist Zeit seines Lebens ein akademischer Aussenseiter geblieben. In den 1930er- und 40er-Jahren war sein Editionsprojekt zu Gottfried Keller und zu Leben und Werk Carl Spittelers durch eine antisemitisch grundierte Debatte ausgebremst worden. Nach 17 Bänden entzog man ihm die Keller-Edition und verbot ihm den Zugang zu Spittelers Nachlass. Niemand wusste, dass Fränkel in seiner Bibliothek einen Krypto-Nachlass angelegt hatte und darin den halben Nachlass des Schweizer Nobelpreisträgers Carl Spitteler barg. 

Agfa Trockenplatten
Jonas Fränkel am Schreibtisch im Haus seiner späteren Schwiegermutter Antonie Wilisch, ca. 1908/10, Agfa Trockenplatten, SLA-Fraenkel-D-10-l-01 (Foto: Simon Schmid, NB)

Sein eigenes Gelehrtenarchiv enthält 26’500 Briefe und in einem Umfang von 450 Archivschachteln wertvolle Dokumentationen zur jüdischen Kulturgeschichte und zur Literatur, Geschichte, Politik und Wissenschaft. In einigen Archivschachteln lagern zudem auch mehr als hundert belichtete Glasplatten, die auf dem Boden gestapelt im Arbeitszimmer vor Fränkels Aktenschrank gefunden wurden. Sie zeigen Handschriften von Spitteler, Keller und mit Heinrich Heine einen weiteren Stern an Fränkels literarischem Himmel. Zwei Agfa-Schachteln enthielten zudem Portraits von Fränkel selbst. Ein Vergleich im Nachlass legt nahe: Sie zeigen den frisch von der Universität Bern habilitierten Literaturwissenschaftler um 1908 bis 1910, wohl im Haus seiner späteren Schwiegermutter im nordrhein-westfälischen Königswinter, der mit Carl Spitteler liierten Antonie Willisch.

Die Aufnahmetechnik auf Glasplatten war um 1910 verbreitet. Kleinere Fotoapparate mit Zelluloidfilmen gab es zwar schon, durchgesetzt haben sie sich aber erst in den 1930er-Jahren. Für die Aufnahmen musste Fränkel minutenlang stillsitzen – was die leicht unnatürliche Haltung sowie die Unschärfe erklärt. Gut zu erkennen ist er dennoch: am Schreibtisch in einem bürgerlichen Salon, nicht seinem eigenen Arbeitszimmer, das er erst 1920 im Haus bei Thun einrichtete. Hinter ihm Bücher, die später in seine Bibliothek eingingen, auf dem Tisch das Porträt seiner Schwiegermutter, an der Wand eine Kopie der «Schlummernden Venus» (1510) von Giorgione und Tizian.

Möglicherweise wurde bei der Aufnahme auch Blitzlichtpulver mit Magnesium eingesetzt, eine Technik, die wir heute nur noch aus historischen Filmen kennen. Die schweren Platten waren zwar unhandlich, aber ausserordentlich haltbar. Hielt man sie gegen das Licht, war das Bild bereits sichtbar, ohne Abzug auf Papier. Dank ihrer geringen Filmempfindlichkeit geben sie feinste Details wieder – für Fränkel ein unschätzbarer Vorteil. So konnte er zentrale Quellen sichern, denn diese Dokumente mussten oftmals entweder zurückgegeben werden, handelte es sich um Besitz aus Archiven oder Privatsammlungen. Oder ihr Besitz war für Fränkel bedroht, da ihm wiederholt der Zugang versperrt war.

Heute sind die Glasplatten nicht nur ein Stück Technikgeschichte, sondern auch eindrückliche Zeugnisse: Sie zeigen Jonas Fränkel in jungen Jahren – und machen sichtbar, wie er seine eigene wissenschaftliche Arbeit später gegen Widerstände verteidigte.

Jonas Fränkel (1879–1965) war einer der umstrittensten Literaturwissenschaftler der Schweiz, dessen Schaffen bis heute nicht ausreichend Würdigung erfährt. Seine Verdienste um die Person Carl Spittelers und das Werk Gottfried Kellers wurden ihm zu Lebzeiten nie offiziell verdankt.

Letzte Änderung 15.10.2025

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