«Ich sah die italienischen Inseln durch den Deutschschweizer Nebel»

Die Schriftstellerin Anna Felder erzählt von der italienischen Immigration der Sechzigerjahre in die Schweiz.

Von Ilaria Macera

Im Sommer 1970 erscheint im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung ein Fortsetzungsroman mit dem inspirierenden Titel «Quasi Heimweh». Der Text ist die von Federico Hindermann verfasste deutsche Übersetzung des ersten Romans von Anna Felder, einer jungen Lehrerin an der Kantonsschule Aarau. Das italienische Original wird erst zwei Jahre später unter dem Titel «Tra dove piove e non piove» im Tessiner Verlag Pedrazzini erscheinen und wird die in Lugano geborene Anna Felder (1937–2023), die an der Universität Zürich italienische Literatur studiert hat, als eine der wichtigsten literarischen Stimmen der italienischen Schweiz etablieren. 

Tra dove piove e non piove
Die überarbeiteten Seiten von «Tra dove piove e non piove» und Arbeitsangebote für «Italiener» (Foto: NB, Simon Schmid)

Die kurze Einleitung zu «Quasi Heimweh» in der NZZ schliesst mit dem Wunsch, «unseren Lesern dieses Werk […] vermitteln zu können, zumal in einer Zeit, da wir alle unser Zusammenleben mit Menschen aus aller Herren Ländern in eben jener selbstverständlichen Menschlichkeit sehen möchten». Die Zeit ist tatsächlich eine schwierige für die italienischen Immigrantinnen und Immigranten in der Schweiz: Es sind die Jahre des Schimpfworts «Tschingg», des «Für Hunde und Italiener verboten» und der Gastarbeiterquartiere. 1970 kommt schliesslich die Schwarzenbach-Initiative zur Abstimmung, die mit der Ausschaffung von rund 300’000 Personen gegen die angebliche «Überfremdung» der Schweiz vorgehen will. Die kontroverse Initiative mobilisiert grosse Teile der Zivilbevölkerung und der Intellektuellen – die Stimmbeteiligung wird mit 75 % denn auch rekordhoch sein. 

Aus dieser aufgeregten Zeit ist ein Satz von Max Frisch aus dem Vorwort zu Alexander Seilers Publikation «Siamo italiani» (nach dem gleichnamigen Dokumentarfilm) bekannt geblieben: «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen». Von diesen Menschen erzählt Felders Buch. Es ist die Geschichte einer jungen Lehrerin aus Norditalien, die in den Kanton Aargau immigriert, um den Kindern der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter die italienische Sprache beizubringen. Anna Felders Schreiben lässt den Roman allerdings weit über den politischen Kontext hinauswachsen. 

Das Erforschen der Gefühlswelt der Protagonistin und das feinfühlige Erzählen von Lebensgeschichten, die unsicher zwischen zwei Kulturen verlaufen und nie ganz zu Hause ankommen, machen das Lesen zur Wanderung auf unebenem Untergrund, auf dem man den schlammigen Stellen ausweichen muss, auf der Grenze «zwischen da, wo es regnet, und dort, wo es nicht regnet – tra dove piove e non piove». 

Unter den Dokumenten von Anna Felder, die seit 2008 im Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrt werden, befinden sich auch die verschiedenen Versionen von «Tra dove piove e non piove». Sie lassen erkennen, mit welcher Präzision die endgültige Fassung erarbeitet wurde: Jede Seite weist Streichungen, Korrekturen oder Ergänzungen auf kleinen Zetteln auf, die von einer unermüdlichen, minuziösen Arbeit zeugen.

Neben den maschinengeschriebenen Blättern sind auch Zeitungsausschnitte zu finden, die heute aufzeigen, wie sehr hier das Private und das Öffentliche ineinandergreifen – wie die Autorin später sagen wird: «Mir wurde bewusst, dass sich heute, nach Jahrzehnten, die Ereignisse meiner Geschichte, die ich in vielen Begebenheiten und Details erzählt habe, in eine allgemeinere Geschichte einfügen, in der die Begebenheiten und Details von damals zu bedeutungsvollen Ausdrücken einer Zeit und eines kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Klimas geworden sind».

Anna Felder (1937–2023), geboren in Lugano, war eine der bedeutendsten italienischsprachigen Schriftstellerinnen der Schweiz. Sie hat Romane und Erzählungen publiziert, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde mit zwei Preisen der Schweizerischen Schillerstiftung, mit dem Aargauer Literaturpreis sowie 2018 mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet.

Letzte Änderung 05.11.2024

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