Erinnerungen an den verschwundenen Uhu

Tiere sind fester Bestandteil des Werks von Leta Semadeni. Zu einem ihrer bekanntesten Gedichte inspirierte sie die Begegnung mit einem Uhu.

Von Damaris Gut

Während vieler Jahre hat die Engadiner Autorin Leta Semadeni hauptsächlich lyrische Texte publiziert, im rätoromanischen Idiom Vallader und auf Deutsch. Das änderte sich, als sie im Jahr 2005 ihre Anstellung als Lehrerin kündigte und sich ganz dem Schreiben widmete. In den folgenden Jahren veröffentlichte sie zwei deutschsprachige Romane, «Tamangur» (2015) und «Amur, grosser Fluss» (2022), mit denen sie einem breiten Lesepublikum auch in der deutschsprachigen Literatur bekannt geworden ist.

Anastasia
Eine Feder und ein Foto: Erinnerungen an den Uhu Anastasia im Archiv von Leta Semadeni (Foto: NB, Simon Schmid)

Gedichte und Romane durchzieht ein roter Faden: Verschiedene Tiere hinterlassen darin ihre Spuren. Semadeni selbst schreibt in ihrem Gedicht «Tiere»: «Immer wieder / schleicht ein Tier / durch meine Texte». Es sind Füchse, Raben, Tukane, Ziegen… Und auch: ein Uhu. Er ist titelgebend für ihren ersten, mehrfach ausgezeichneten Gedichtband «Monolog per/für Anastasia» (2001) sowie das gleichnamige zweisprachige Gedicht. 

Angestossen wurde das Gedicht durch einen Uhu, den Semadeni über ein Jahr lang bei sich zuhause pflegte und auf den Namen «Anastasia» taufte – überzeugt, dass es sich um eine «Uhuin» gehandelt haben muss. An sie erinnert im Vorlass der Autorin im Schweizerischen Literaturarchiv eine Fotografie und eine Feder von Anastasia, die den Typoskripten zum Gedicht «Monolog für Anastasia» beigelegt sind. Die Aufnahme zeigt den Uhu, der mit schwerverletztem Flügel im Oberengadin gefunden worden war, im Garten des damaligen Hauses der Autorin in Susch. Mit einer Flügelspannweite von über zwei Metern, zwei kräftigen Greiffüssen und den grossen, orangefarbenen Augen muss er sehr imposant gewirkt haben.

Ausschlaggebend dafür, dass Semadeni den Uhu bei sich aufnahm, war ein Lehrerkollege. Nachdem man vergeblich versucht hatte, die verletzte Schwinge des Tieres zu retten, suchte er einen Platz, um den Vogel vorübergehend unterzubringen. Semadeni beherbergte die «Uhuin» in einer eigens gebauten Voliere im Garten und einem Horst im Keller, in den sich Anastasia tagsüber durch das Kellerfenster zurückzog.

Laut Semadeni gestaltete sich die allabendliche Fütterung abenteuerlich: Der Jagdaufseher und ein Angestellter der Gemeinde deponierten regelmässig Tierkadaver vor der Haustüre der Autorin. Ihrem Partner kam die Aufgabe zu, diese Kadaver, die manchmal bereits mehrere Tage alt waren, in kleine Portionen zu zerlegen, mitsamt Haut, Fell, Innereien und Knochen. Bei grösseren Tieren waren sie mitunter auf die Hilfe des Dorfmetzgers angewiesen. Aufbewahrt wurden die Fleischhappen im Tiefkühlhäuschen der Gemeinde.

Semadeni gewann langsam das Vertrauen des Tieres, Anastasia akzeptierte ihre Besuche in der Voliere, ohne sie durch kräftiges Schnabelkappen zu warnen. Doch eines Tages fand sie das Gitter der Voliere beschädigt vor, nachweislich von Menschenhand. Anastasia war spurlos verschwunden. Wohin, das hat sich nie geklärt. Selbst konnte sich der Uhu nicht befreit haben und die fehlende Schwinge hätte ihn am Wegfliegen gehindert.Die Erinnerung an die einzigartige Begegnung ist jedoch im Gedicht «Monolog für Anastasia» erhalten geblieben: «Die Nacht macht mich den Dingen gleich / aber du siehst mich / und du weißt mehr als Menschen / die nachts dastehn / wie die Zäune des Gartens».

Leta Semadeni, 1944 in Scuol im Unterengadin geboren, studierte Sprachen (Deutsch, Französisch und Rätoromanisch) und war danach als Lehrerin in Zürich und im Engadin tätig. Seit 2005 lebt sie als freischaffende Autorin in Lavin. Neben Kinder- und Jugendbüchern hat sie mehrere zweisprachige Gedichtbände sowie die Romane «Tamangur» (2015) und «Amur, grosser Fluss» (2022) veröffentlicht. Sie wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2023.

Letzte Änderung 28.05.2024

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