1966 nahm der Kunsthistoriker und Autor Michel Thévoz an einem LSD-Experiment teil und machte dabei Erfahrungen, die ihn noch Jahrzehnte später beschäftigen sollten.
Von Vincent Yersin
«[E]s ist ein Körper ohne inneres Gewicht, ohne Balance, ohne diese innere Sensibilität, die mir normalerweise als Bezugspunkt dient [...]. Das Zimmer atmet mit mir, der Raum hat die Wärme und Weiche meines Fleisches, alles umhüllt mich.» Diese Schilderung, 1966 unter dem Titel «Sous l’effet du L.S.D.» in einer Studentenzeitschrift erschienen, verdanken wir Michel Thévoz, dem späteren Leiter der Collection de l’Art Brut in Lausanne. Nachdem Thévoz einige Jahre später nach einem Vortrag über die Wirkung von Drogen Ärger mit einem Richter bekommen hatte, verlangte er ein Attest, das rück-blickend den wissenschaftlichen Charakter der Einnahme des Halluzinogens bescheinigen sollte. Der Psychiater Aldo Calanca, der das Experiment damals geleitet hatte, hielt in seinem Bericht fest: «Herr Thévoz [...] ist an allem interessiert, was mit künstlerischen Aktivitäten zu tun hat. [...] Sein Interessengebiet umfasst auch halluzinogene Drogen, und wenn er sich einer sogenannten ‹psychedelischen› Erfahrung unterzogen hat, dann nicht wegen eines Suchtverhaltens, sondern zu Forschungszwecken.»
Fast zwanzig Jahre nach dem Experiment veröffentlichte Michel Thévoz diesen Bericht neu, als Teil eines mit «Il n’y a pas d’art psychédélique» betitelten Kapitels in «Art, folie, L.S.D., graffiti, etc…» (1985), und ordnete ihn ein. Der Text beleuchtet die Drogenproblematik aus ästhetischer wie politischer Sicht. Etwas überraschend argumentiert Thévoz dabei, Drogen böten dem Künstler keine Unterstützung, und wenn sie in das kreative Schaffen eingreifen würden, dann immer nur als Thema, nie aber als Ausgangspunkt der bildhauerischen oder literarischen Tätigkeit. Originalität könne nicht die Folge äusserer Faktoren sein, vielmehr müsse der Künstler in sich selbst «sein persönliches Betäubungsmittel» finden.
Vor diesem Hintergrund betrachtet Thévoz die sogenannte «psychedelische Kunst» als belanglos, und Drogen seien in Wahrheit ineffizient. In «L’art comme malentendu» (2016) schreibt er dazu: «[M]an könnte meinen, dass Psychopharmaka das verdammte Bewusstsein, das angeblich die Kreativität hemmt, neutralisieren. [Die] Werke sind vielmehr paradoxerweise die Folgen schlechter Morgen.» Auch zur politischen Frage der Kriminalisierung von Drogen wartet der Text von 1985 mit kontroversen Meinungen auf. Für Thévoz hat diese keinen Wert, ausser dass sie die Lust am Verbotenen anstachelt. Darüber hinaus diene sie der Gesellschaft letztlich nur dazu, den Drogenkonsumenten in die Ecke eines «eklatanten [und] kontrollierten Illegalismus» zu drängen. Dadurch werde er ihr zu einem nützlichen Sündenbock: Er verkörpert «die ‹korrekte› Art der Verhaltensauffälligkeit».
Solche provokanten Gedanken zu Drogen und ihrem Konsum trieben Thévoz also auch noch fünfzig Jahre nach der grundlegenden initialen Rauscherfahrung um. Ein Aspekt blieb dabei stets zentral: dass nämlich solche Erfahrungen «zu verstehen helfen, inwieweit die Wahrnehmung eine Struktur ist, eine Aktivität der Organisation, des Vergleichs, des Inbeziehungsetzens von sich gegenseitig definierenden Objekten».
Was Thévoz hier über die Wahrnehmung schreibt, setzt er auch ständig ästhetisch um, indem er sich häufig Phänomenen zuwendet, die ihre Grenzen ausloten: Tätowierung, Graffiti, Wahnsinn, Todestrieb, Hässlichkeit und vieles mehr.
Michel Thévoz (*1936) ist Kunsthistoriker. Er begründete die Collection de l’Art Brut in Lausanne und ist Autor von rund dreissig Büchern, die häufig polemisch sind. Sein letztes, 2022 erschienen, ist dem Maler Hans Holbein gewidmet.
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Der Kunsthistoriker, der sich zu Forschungszwecken berauschte (PDF, 613 kB, 01.06.2023)Der Bund, Mittwoch, 31. Mai 2023
Letzte Änderung 01.06.2023