Während den Dreharbeiten zu Dimitri Kirsanoffs «Rapt» von 1933 lernte S. Corinna Bille als «Scriptgirl» des Regisseurs die Welt des Films kennen.
Von Fabien Dubosson
Zunächst erkennt man aus der Froschperspektive eine junge blonde Frau in Berner Tracht, die auf die schneebedeckten Berge zwischen den Kantonen Bern und Wallis blickt. Dann tritt der Walliser Hirte Firmin auf, packt sich die Frau und verschleppt sie in sein Dorf, wo er sie in seinem Haus gefangen hält. Firmin hat mit den Menschen «dort», den Bernern, noch eine Rechnung offen. Mit der Entführung beginnt ein Rachefeldzug, der an ein antikes Drama erinnert. Untermalt von der Musik von Arthur Honegger, kommt es zu einer schnellen Abfolge von Einstellungen, die in der Raserei mündet, dem Brand von Firmins Haus, der beiden Protagonisten das Leben kostet … Dimitri Kirsanoffs Film «Rapt» («Entführung») von 1933 inszeniert einen Roman von C. F. Ramuz, »La Séparation des races» (1922), und verhilft dem Waadtländer Schriftsteller sogar zu einem «Cameo»-Auftritt als Dorfbewohner.
Ganz in Ramuz’ Nähe, als Teil der Filmcrew, fand sich eine seiner begeistertsten Leserinnen, eine junge Frau von zwanzig Jahren, der ebenfalls eine grosse literarische Karriere bevorstand: S. Corinna Bille assistierte dem Regisseur als «Scriptgirl». Ihr Vater, der Maler Edmond Bille, hatte sie dem Produzenten empfohlen. «Ich war vergnügt, hatte jedoch auch ein wenig Angst vor meinen Aufgaben als Scriptgirl: Ich konnte kaum tippen und überhaupt nicht rechnen», gab die Schriftstellerin später zu. «Aber es war eine wunderbare Zeit, in den Bergen herumzuirren und in leeren Hotels zu kampieren.» In Billes Fotoalbum, heute in ihrem Nachlass im SLA überliefert, sieht man sie, wie sie die Regiearbeit verfolgt oder bei Pausen mit dem Filmteam. Mehrere Aufnahmen zeigen sie mit dem französischen Schauspieler Vital Geymond, der den Entführer-Hirten Firmin spielte. Die Walliserin verliebte sich sofort in den 36-jährigen Hauptdarsteller. Sie beschloss, ihn zu heiraten, und zog mit ihm nach Paris. Diese einvernehmliche «Entführung» wurde für die junge Frau jedoch zu einer traumatischen Erfahrung. Denn es war eine reine «Scheinehe»: Das Verlangen seiner Frau konnte Vital nicht erwidern. Er begehrte sie nicht, und so blieb die Ehe unvollzogen. Nach zwei Jahren des Zusammenlebens verliess Corinna ihren Mann und kehrte ins Wallis zurück.
Die Geschichte mit Vital bildete jedoch nur einen Teil des veritablen Liebesdreiecks, das sich im Schatten von «Rapt» entwickelte. Auf mehreren Fotos in Billes Album ist der dritte Protagonist ihrer romantischen Abenteuer zu erkennen: Benjamin Fondane, der Drehbuchautor des Films. Zwischen ihm und Corinna schien sich Liebe anzubahnen, die sich jedoch, wie sie sich 1968 erinnerte, sehr schnell in Kameradschaft wandelte: «Er nannte mich ‹kleine Wilde› [...]. Ich fand ihn sehr hässlich, und doch besass er grossen Charme.» Fondane, der zugleich Dichter, Essayist und Filmemacher war, bewegte sich in der rumänischen Avantgarde, bevor er zu einer geachteten Figur in den Intellektuellenkreisen Frankreichs wurde. Als er in einer Zeitschrift S. Corinna Billes erste Texte entdeckte, gratulierte er ihr herzlich. Sein Schicksal verlief jedoch tragisch: 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, von wo er nicht mehr zurückkehrte. Von ihrem Flirt und der anschliessenden Freundschaft blieben Bille nur einige Briefe – manche davon explizit zu Fondanes Gefühle für sie – und die Fotos im Album. Es sind Erinnerungen an die unbeschwerten Jahre, bevor sich die Realität als noch schrecklicher erwies als die Fiktion.
S. Corinna Bille wurde 1912 in Lausanne geboren und starb 1979 in Sierre/Siders. Sie ist die Autorin vieler Romane und Kurzgeschichten-Sammlungen, darunter «Théoda» (1944), «Le Sabot de Vénus» (1952), «La Fraise noire» (1968) und «La Demoiselle sauvage» (1974). Letztere Sammlung wurde 1975 mit der «Bourse Goncourt de la Nouvelle» ausgezeichnet. S. Corinna Bille und C. F. Ramuz auf dem Dreh von «Rapt» sind zu sehen in der Ausstellung «Die Leinwand beschreiben» zum Verhältnis von Literatur und Film.
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Ein Liebesdreieck am Filmset (PDF, 484 kB, 08.09.2023)Der Bund, Dienstag, 29. August 2023
Letzte Änderung 08.09.2023