Eine Haut aus Leder: Mariella Mehr und ihr Werk

Die jenische Autorin Mariella Mehr erlebte in der Kindheit massive Gewalt, die sie in ihren Texten verarbeitete. Zu ihrem literarischen Nachlass gehört auch eine Jacke, die für sie mehr war als Kleidung.

Von Oliver Krabichler

Trotz vieler Nachrufe nach ihrem Tod im Herbst des vergangenen Jahres gehört Mariella Mehr noch immer zu den zu wenig gelesenen Vertreterinnen der Schweizerischen Literaturszene. Dies, obwohl sie und ihr literarisches Werk eine so unvergleichliche Stellung darin einnehmen. Ein Streifzug durch Mehrs Nachlass gestaltet sich ähnlich wie die Lektüre ihrer Prosawerke – beschwerlich und gleichzeitig faszinierend.

Lederjacke
Mariella Mehrs Sohn Christian sorgte dafür, dass die Lederjacke seiner Mutter den Weg ins Schweizerische Literaturarchiv fand

Als Tochter von Jenischen wurde Mehr im Rahmen des sogenannten «Hilfswerks Kinder der Landstrasse» ihren Eltern entrissen. Im Auftrag der Pro Juventute wurden über 600 Kinder von Fahrenden in Heime und psychiatrische Kliniken gesteckt, um ihnen ein sesshaftes Leben aufzuzwingen. Sie erlebten massive Gewalt und wurden ihrer Kindheit beraubt. So auch Mariella Mehr, der schliesslich auch ihr eigener Sohn weggenommen wurde und die ein Leben lang unter der ihr zugefügten Gewalt gelitten hat. Umso mehr ringt der Weg ihrer künstlerischen Selbstermächtigung Bewunderung ab: Ihre Wut und Verzweiflung vermochte Mariella Mehr in ein so reiches wie eigenwilliges literarisches Schaffen umzumünzen. Daraus entstanden eindrückliche Texte, die geprägt sind von physischer, aber auch von sprachlicher Gewalt – so zum Beispiel «Daskind», «Angeklagt» oder «Zeus». Ihre Protagonistinnen begehen Brandstiftung und Mord und verschaffen sich dadurch Gehör. Sie sind Stellvertreterinnen, die es der Autorin ermöglichen, selbst keine Gewalt anwenden zu müssen – oder eben nur literarisch.

Mehrs Biografie, aber auch ihr unermüdlicher Kampf gegen institutionelle Gewalt und die Unterdrückung von Minderheiten, statteten die Literatin mit einer enormen Widerstandsfähigkeit aus. Metaphorisch für diese zähe Haut steht ihre Lederjacke, die sie seit Anfang der 1980er-Jahre begleitete und für sie weit mehr als ein Kleidungsstück war. Sie trug sie bei bedeutenden Veranstaltungen wie der Verleihung von Literaturpreisen oder der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Basel. Auch an Lesungen war sie ausgestattet mit Sonnenbrille und Lederjacke, um die nötige Distanz zu schaffen, dank der sie ihr Lampenfieber zu ertragen vermochte. Ihre geliebte Jacke emigrierte mit ihr nach Italien und auch im Pflegeheim in Zürich wurde sie noch fleissig getragen.In Mehrs Archiv sind ebenso weitere Objekte aus Leder zu entdecken. So besass sie lederne Brieftaschen und Mappen, in welchen sie ihre persönlichen Dokumente aufbewahrte. Und es finden sich etliche Notizbücher in Ledereinbänden, in denen Mehr alltägliche Notizen, ihre Traumaufzeichnungen, aber auch Entwürfe ihrer literarischen Texte festhielt. Die ledernen Hüllen stellen dabei nicht bloss eine Schutzhülle dar, sie verkörpern die Lebenshaltung Mehrs, die auch ihre Literatur charakterisiert: radikal, ungefiltert, gegen das Establishment.

Dem wird Ausdruck verliehen, wenn die Autorin bei ihrer Abdankung vom Sohn Christian mit einem Punkkonzert verabschiedet wird. Ebendieser Sohn – der sich ebenso mit Engagement und Aktivismus für die Akzeptanz der Fahrenden und für unterstützungsbedürftige Menschen einsetzt – sorgte dafür, dass das geliebte Kleidungsstück als Teil des Nachlasses von Mariella Mehr den Weg ins Schweizerische Literaturarchiv fand, wo sie nun gemeinsam mit ihrem literarischen Werk die Zeiten überdauern wird.

Mariella Mehr wurde am 27. Dezember 1947 als Tochter von Jenischen geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie in Heimen und psychiatrischen Institutionen, wo sie massive Gewalt erleiden musste. Ihr literarisches Schaffen wurde mehrfach ausgezeichnet. Am 5. September 2022 verstarb Mehr im Alter von 74 Jahren.

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Letzte Änderung 28.02.2023

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