Schreibende Brüder, vom Schicksal gebissen

Der Aargauer Schriftsteller Klaus Merz hat seinen Bruder Martin als Lyriker gefördert und das Familienschicksal in «Jakob schläft» literarisch gestaltet.

Von Ulrich Weber

«Dort wo alles zu Ende ist, / wo der Berg des Todes / seine Pforte öffnet, ist die Welt in der es keine Zeit gibt», schrieb der sechzehnjährige Martin Merz (1950–1983) am 1. April 1966 auf der Schreibmaschine, die Buchstaben zittrig verdoppelt. Durch seinen Wasserkopf» (Hydrozephalus) war er motorisch schwer beeinträchtigt, Schreiben von Hand kaum möglich. Klaus Merz, der fünf Jahre ältere Bruder, selbst ein angehender Schriftsteller, ermutigte den Jüngeren, Gedichte zu schreiben. Eine Auswahl wurde 1968 unter dem Titel «Gedichte eines Kindes» publiziert, nur ein Jahr nach Klaus Merz’ eigenem dichterischem Erstling «Mit gesammelter Blindheit».

Aufgetaucht Merz
«Deux frères»: Die Korrespondenz zwischen den Brüdern und Martin Merz (unten) beim Schreiben. (Foto: NB, Simon Schmid)

«... vielleicht sind wir in unserer Familie schon zu oft gebissen worden, weil das Schicksal, oder wie man es nennen mag, manchmal noch spitzigere Zähne hat, als Vati’s Hundefreunde», schreibt Klaus dem Bruder am 18. September 1969 und bittet ihn, neue Gedichte zu schicken. Unter den Brief zeichnet er ein berührendes Janus-Doppelgesicht, «Deux frères». In einem späteren Interview meint er: «Man muss der Schwerkraft, die einen ständig nach unten zieht, etwas entgegenhalten. Dennoch ist für mich klar: Das Leben ist eine heillose Geschichte.»

Klaus Merz trägt die Familiengeschichte als «Latentes Material» (so ein weiterer Titel) in sich und wird dieses erst Jahre nach dem Tod des Bruders ans Licht bringen und erzählerisch gestalten. «Ob man sich das vorstellen könne», legt er in «Report» (1988) einem Schlachthof-Mitarbeiter mit weissem Gummischurz in blutigem Umfeld in den Mund, «einen Bruder zu haben mit grossen Kavernen im Kopf, in denen unablässig Wortgebilde entstünden, schmal und zerbrechlich wie Stalagmiten oder Stalaktiten, nur wüchsen sie viel schneller als Tropfsteingebilde, lagerten sich aber viel unscheinbarer ab: in Stapeln von Papier.»

Und 1997 bringt er das Familienschicksal mit den spitzigen Zähnen nur leicht maskiert in seinem Meisterwerk «Jakob schläft» zu Papier: die Totgeburt des Ältesten, der eigentlich als Jakob getauft werden sollte und auf dem Grabkreuz «Kind Renz» heisst, die Epilepsie des Vaters, die Schwermut der Mutter, die so augenfällige Behinderung des jüngeren Bruders – unter den neugierigen Blicken der Dorfbewohner formt das Leid die Familie erst recht zu einer verschworenen Gemeinschaft. 

Bei aller Nähe der Brüder Merz unterscheiden sich ihre Arbeitsprozesse von Grund auf. Während Martin seine Gedichte «mit zwei Fingern» in die Tasten «hackt» und stehen lässt, was einmal geschrieben steht, ist der ältere Bruder Klaus ein Sprachverdichter und -künstler, ein Meister der Andeutung und des Indirekten und Lakonischen, dessen Texte auch nach dem Ende der Latenzzeit erst in langen Überarbeitungsprozessen vollendet werden. Wie ein Bildhauer meisselt er unentwegt an der Gestalt. Gerade mal 75 Seiten braucht er in «Jakob schläft», um in 22 dichten Kapiteln den Familien-Lebensstoff, «eigentlich ein Roman», zu entfalten. Doch nicht weniger als zwölf Fassungen davon finden sich – mit wechselnden Titeln – in Klaus Merz’ Archiv, und noch die zwölfte Fassung weist auf jeder Seite des Computer-Ausdrucks Überarbeitungen und Ergänzungen mit Bleistift auf, bis jedes Wort sitzt und das Werk jenen rätselhaft paradoxalen Effekt erreicht, dass wir das unsäglich schwere Familienlos beglückt von der sprachlichen Gestaltung nacherleben.

Klaus Merz, geboren 1945, lebt in Unterkulm (AG). Er schreibt vor allem Kurzprosa und Gedichte. Am 22.9. um 18 Uhr ist Klaus Merz mit Martina Clavadetscher zu Gast im Schweizerischen Literaturarchiv und spricht über «Schreibtechniken», begleitend zur Ausstellung «Aufgeschrieben: Stift, Taste, Spracherkennung».

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Letzte Änderung 21.09.2022

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