Warum ein Bündner Autor nach chinesischen Versen dichtete

Der Schriftsteller und Literaturprofessor Remo Fasani nahm in seinem Werk starken Anteil am Schicksal seiner Heimat, dem Italienischbünden.

Von Daniele Cuffaro

Der Bündner Schriftsteller Remo Fasani (1922–2011) trat als Lyriker, Literaturübersetzer und Essayist hervor, nebst einer langen Forscherkarriere und einem grossen Engagement für die akademische Lehre.

Geboren und aufgewachsen in Mesocco, studierte er an den Universitäten Zürich und Florenz, wo er unter anderem Cristina Campo und Mario Luzi kennenlernte, mit denen er sich regelmässig austauschte. Als leidenschaftlicher und akribischer Dante-Forscher hatte er während 23 Jahren den Lehrstuhl für italienische Sprache und Literatur der Universität Neuenburg inne, nachdem er zuvor an verschiedenen Schulen in Graubünden unterrichtet hatte. Remo Fasanis literarisches Werk lässt sich in zwei grosse Perioden unterteilen: Die erste beginnt 1945 mit seinem Debüt, der Sammlung «Senso dell’esilio», und dauert bis zum Ende seines Aufenthalts in Chur 1962. In dieser Phase finden das Misox und vor allem die Berge um Mesocco Eingang in seine Lyrik. Mit dem Umzug nach Neuenburg findet Fasani – nach einiger Zeit des Schweigens – zu einer neuen Stimme, die nun von aussen die Situation in Italienischbünden beschreibt und kommentiert. 

Aufgetaucht Fasani
Remo Fasani war der Landschaft seiner Kindheit eng verbunden, unter anderem der Burg von Mesocco. (Foto: NB, Simon Schmid)

Der Schriftsteller nahm starken Anteil am Schicksal seines Tals: Als Sohn einer Bauernfamilie hatte er einen direkten Bezug zu dieser Region und setzte sich, ohne zu zögern, für sie ein. Zu Fasanis Themen, die er zuweilen auch polemisch verarbeitete, gehören die Verteidigung der Sprachenvielfalt und die Beobachtung der soziokulturellen Realität der Schweiz. Kämpfe und Meinungen prägen metaphorisch die Verse, die Fasani der Burg von Mesocco widmete, und in denen er dazu aufruft, die Bastion aus der Vergangenheit nicht zu vergessen und sie zu neuem Leben zu erwecken. 

Die Festung wird zum essentiellen Bestandteil einer Landschaft, an die er durch die Schilderung des mühevollen bäuerlichen Lebens in den Bergen erinnert. Im Laufe der Jahre gerät diese urtümliche Kultur in Konflikt mit neuen Formen des Zusammenlebens und einer auch in den Tälern greifbaren Industrialisierung. Die Spaziergänge «von Mesocco hinauf nach Pian San Giacomo» wurden für Fasani zu introspektiven Momenten eines Selbst zwischen reeller und spiritueller Welt, so dass er ihnen Vierzeiler nach chinesischem Vorbild widmete. Auf die chinesischen Gedichte stiess er durch die deutschen Übersetzungen von Max Geilinger. Remo Fasani war beeindruckt von der Fantasie der chinesischen Dichter und erkannte, dass ihre Beziehung zur Natur seiner eigenen Erfahrung in der Landschaft von Mesocco glich. Der Bündner Dichter begann auch deshalb ähnliche Gedichte zu schreiben, weil er fasziniert war vom Versmass der vier Zeilen und dessen Anwendung, die eine grosse sprachliche Disziplin erfordert.

Sein Schaffensprozess brachte ihn dazu, sich immer mehr mit der östlichen Kultur und vor allem mit der transzendentalen Meditation zu befassen. Indem die Vierzeiler ihre Geheimnisse nach und nach aufdecken und die Räume zwischen dem Alles und dem Nichts auffüllen, verfolgen sie eine zentrale Dialektik der östlichen Mystik. Dieser metaphysische Hintergrund umgibt im Gedicht «Metamorfosi» auch Mesocco und seine Festung: 

«Castello di Mesocco, ti ho sognato. / V’era un affresco delle Cordigliere. / Ma la visione adagio si mutava. / Le montagne alla fine erano vere» («Von dir habe ich geträumt, Burg von Mesocco. / Ich sah eine Freske der Bergkette. / Die Vision begann sich aber langsam zu verändern. / Schliesslich waren die Berge echt»). 

Remo Fasanis Lyrik verbindet sich so nicht nur mit der Landschaft, sie trägt auf abstrakte Art und Weise auch ihre eigene Philosophie mit sich, die auf einer Komplementarität von intuitiven und rationalen Elementen beruht.

Remo Fasani (1922–2011) wurde in Mesocco geboren. Er besuchte das Lehrerseminar in Chur und studierte an den Universitäten von Zürich und Florenz. Von 1962 bis 1985 war er Professor für italienische Sprache und Literatur an der Universität Neuenburg. 1945 veröffentlichte er die Gedichtsammlung «Senso dell’esilio», auf die weitere lyrische Werke folgten, die 1987 in der Gesamtausgabe «Le poesie 1945–1986» erschienen. Dazu kommen die Sammlungen «A Sils Maria nel mondo» (2000) und «Sogni» (2008). Der literarische Nachlass zeugt vom Interesse des Schriftstellers für die Geschichte und das Weltgeschehen. In seinen Gedichten sprach Fasani denn auch Themen wie das Exil, die Einsamkeit oder die Ökologie an.

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Letzte Änderung 31.03.2022

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