Im Schreiben der Tessiner Autorin Anna Felder vereinen sich verschiedenen Perspektiven.
Von Daniele Cuffaro
In ihrem Debutroman Quasi Heimweh (1970 und 2019; deutsche Fassung von Federico Hindermann), skizziert Anna Felder mit Empathie und einem ironischen Blick die italienische Einwanderung in die Schweiz. Die Protagonistin, eine eben im Norden der Alpen eingetroffene Lehrerin, beschreibt die Desorientierung und die kulturellen Diskrepanzen, mit denen sich die Ankömmlinge aus Italien konfrontiert sehen. Mit Leichtigkeit und Prägnanz widerspiegeln Figuren und Stimmen der Autorin die Schwierigkeiten der Eingewöhnung in der Schweiz. Insbesondere für die Kompositionsphase des Werks, in der die Autorin auf mehreren Papierschichten gearbeitet hat, ist dieses Ausbalancieren gut nachvollziehbar.
So zeichnet sich die erste Fassung von Quasi Heimweh durch zahlreiche Anpassungen aus, die in Form von Papierschnipseln auf das Manuskript geklebt wurden. Nicht als Collage, sondern als literarische Überarbeitung. Mit der Zeit hat das Klebeband jedoch seine Haftung (ital. scollatura) verloren, hier und da löste sich der Leim – und wie es der Zufall so will, genau an der Textstelle beim «Ausschnitt (ital. ebenfalls scollatura) oben, der nicht schliessen wollte». Eine gewisse Schicksalshaftigkeit, die sich im Werk von Anna Felder auch in den Worten und ihrer Sonorität wiederfindet.
Die Erzählungen sind flüssig und vereinen ihren Klang, um die Lesenden indirekt entlang verschiedener Gegenstände zu geleiten. Diese sprechen nicht, sind aber in der Lage, uns heimisch fühlen zu lassen, und werden so zu Protagonisten unserer Unterhaltung. Sie tauchen zwischen den Seiten auf und spielen ihre Rolle, sie beobachten uns und spiegeln unser Leben. Die Autorin gebraucht sie auf fast unhörbare Weise, um ihre Eindrücke wiederzugeben. «Dann wusste ich, dass ich jede Minute im Lauf des Tages angesammelt und bis zum Abend mit mir herumgetragen hatte; ich wusste, wenn ich mir unterwegs etwas anschaute, drei Katzen auf einem Bänkchen oder die blaue Uniform eines Mädchens der Heilsarmee, dass ich mir sagte: ‹Das erzähle ich dann den andern›».
Für Anna Felder bedeutet das Schreiben, sich die Zeit zu nehmen, zu erarbeiten, zu korrigieren, zu ordnen und Worte auszuschmücken. Bei Lektorat und Überarbeitung ist Anna Felder selbst ihre erste ideale Leserin, immer wieder von einer anderen Warte aus. Diese Distanznahme und ihre Art zu komponieren sind Reflex und Reflexion des Schreibens, eine Verdoppelung der Stimme, ein Schlüssel zur Lektüre.
Auf diese Weise lassen sich die auf die Protagonistin gehefteten Blicke – «die Männer schauen mir auf die Beine, die geschminkten Lippen» – verschieden interpretieren, je nachdem, mit welcher Figur man sich identifiziert. Wie der Lippenstift, der den Blick einfängt und den Worten Farbe verleiht, haben «so eine ganz geschminkte Susi» oder eine Gemüseverkäuferin, die «sich schön und wichtig» macht, trotz unterschiedlichem Wesen auch etwas, was sie verbindet.
Im Schreiben von Anna Felder finden wir einen hohen Grad von Komplizenschaft zwischen der Schreibenden und den Lesenden, wie auch zwischen der erzählenden Stimme und den Figuren, «denn die Menschen sind sprechende Bücher». Manchmal hört man sie kaum, wie Wörter, die in einem bevölkerten Restaurant schweben und verschwinden, fragil, wie der Bierschaum, der die Lippen bei jedem Schluck verschleiert.
Anna Felder ist 1937 in Lugano geboren und lebt in Aarau. Sie hat Romane und Erzählungen publiziert, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde mit zwei Preisen der Schweizerischen Schillerstiftung, mit dem Aargauer Literaturpreis sowie 2018 mit dem Grossen Preis für Literatur für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet.
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Das Klebeband spielt Schicksal. (PDF, 621 kB, 18.03.2021)Der Bund, 15. März 2021
Letzte Änderung 18.03.2021