Der Spielraum der doppelten Buchhaltung. Patricia Highsmiths Tagebücher

Am 19. Januar wäre Patricia Highsmith 100-jährig geworden. Ihre Tagebücher geben unverblümte Einblicke in ihr Leben und Schreiben.

Von Ulrich Weber

Am 19. Januar 1921 wurde Patricia Highsmith in Fort Worth als Tochter eines Grafikerehepaars geboren, das zum Zeitpunkt der Geburt ihrer ersten Tochter bereits wieder geschieden war. Dass der Nachlass der kleinen Texanerin eines Tages im Schweizerischen Literaturarchiv landen würde, war ihr keineswegs in die Wiege gelegt. Heute ist sie mit ihren eigenwilligen Kriminalromanen, insbesondere mit der Serie um Tom Ripley, eine der meistgelesenen Autorinnen weltweit und ihre Romane wurden unzählige Male übersetzt und verfilmt. Zeitlebens war sie eine Einzelgängerin und als homosexuelle Frau eine Aussenseiterin und schirmte sich vor der neugierigen Öffentlichkeit ab. In ihrem Nachlass fanden sich jedoch Tagebücher, in denen sie vor allem in ihrer Jugend ihre Psyche und ihr Privatleben offenlegte. Highsmith führte zwei Reihen von Tagebüchern. Zum einen die auf ihr Privatleben bezogenen «Diaries»: In diese manchmal schön geschmückten Bücher klebte sie auch allerlei Erinnerungsstücke an ihre Liebschaften ein. Teilweise schrieb die Studentin in Deutsch, Französisch und Spanisch, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen. 

Der Spielraum der doppelten Buchhaltung
Patricia Highsmiths parallel private und literarische Tagebücher.
© Simon Schmid, NB

Zum andern führte sie die auf ihr Schreiben ausgerichteten, literarisch faszinierenden «Notebooks» oder «Cahiers». Ein Leben lang verwendete sie dafür Studienhefte der Columbia University. Darin notierte sie – ebenfalls chronologisch – Beobachtungen über Personen und Schauplätze, Reflexionen und erste Ideen zu Romanen und Erzählungen.  

Highsmith hat vordergründig nie autobiographisch geschrieben, die doppelte Buchführung zeugt davon. Wie eng verflochten jedoch Leben und Schreiben waren, zeigt das Beispiel der Entstehung des Romans The Price of Salt (1952 unter Pseudonym publiziert, später als Carol unter ihrem eigenen Namen). 

Ende 1948 entstanden die ersten Entwürfe zu diesem Roman. Die 27-jährige Highsmith arbeitete damals aushilfsweise im Weihnachtsverkauf eines Warenhauses in Manhattan. Die erste Skizze zum Roman entwarf sie als «Bloomingdale Story» in einem Notebook. Im Roman und dessen Entwurf verliebt sich die junge Verkäuferin Therese Belivet in eine reiche Kundin, und daraus entsteht allmählich eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Die beiden Frauen werden dadurch aus der Bahn geworfen und zugleich zu sich selbst gebracht. Auch Highsmith verliebte sich, wie in den parallelen «Diaries» nachzulesen ist, als Verkäuferin in eine Kundin. Doch ihre Liebe blieb eine Tagträumerei. An Stelle der realen Beziehung trat die Arbeit am Roman, die imaginierte Liebe spornte sie bei der Niederschrift an.

Doch wie die «Diaries» auch zeigen, war Highsmith keineswegs ein Mauerblümchen, das nur von der Liebe zu einer Frau träumte. Im Gegensatz zu ihrer Heldin, die durch diese Liebe ihre Homosexualität entdeckt, hatte Highsmith zum Zeitpunkt ihres Bloomingdale-Erlebnisses bereits reiche Liebeserfahrungen mit Frauen. Die Stelle im Kaufhaus trat sie an, um mit dem Lohn eine Psychoanalyse zu finanzieren, mit deren Hilfe sie (halbherzig) hoffte, sich von ihrer Homosexualität zu befreien und ihren Verlobten, den Schriftsteller Marc Brandel, heiraten zu können. Dass die Analyse eher das Gegenteil bewirkte, steht auf einem anderen Blatt.

Patricia Highsmith (1921–1995) schrieb 22 Romane und unzählige Kurzgeschichten. Der Film Carol nach ihrem Roman war vor einigen Jahren im Kino zu sehen. Ihr Werk wird beim Diogenes Verlag herausgegeben, der für nächsten Herbst eine Auswahl-Ausgabe aus den «Notebooks» und «Diaries» angekündigt hat.

Letzte Änderung 20.01.2021

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