«Wir waren alle Rousseaus kleiner Emil.»

Jean Starobinskis (1920–2019) erste Schule war die berühmte «Maison des Petits» in Genf. Der Genfer Schriftsteller und Kritiker erinnerte sich an seinen Aufenthalt dort als eine Zeit vollkommener Glückseligkeit.

Von Stéphanie Cudré-Mauroux

Diese Privatschule, die ab 1914 während dreissig Jahren von Mina Audemars und Louise Lafendel geleitet wurde, befand sich im Stadtteil Champel und war dem Institut Rousseau angegliedert. Das pädagogische Konzept galt als überaus fortschrittlich. Auf den Spuren von Montessori, Claparède und Bovet schlugen die beiden jungen Pädagoginnen «eine Schule vor, in der die Kinder wollen, was sie tun».

Nous étions de petits Émile
Jean Starobinski im hinteren Teil des Bildes und der Bericht der Pädagogin T. Globus.
© Simon Schmid, NB

Jean Starobinski behauptete später, genau das getan zu haben, insbesondere wenn es darum ging, seine Nähe zu Rousseaus Werk zu bekräftigen: «Wir waren alle der kleine Emil», sagte er in einem Interview mit Isabelle Rüf und Eléonore Sulser im Jahr 2012. «Wir erfuhren die Realität im Sinne Rousseaus. Nach seinem Vorbild züchteten wir Pflanzen auf kleinen Ackerfeldern. Wir waren sehr frei [...]. Auf Festen schwenkten wir unsere kleinen Flaggen im Rhythmus der Lieder von Dalcroze. [...] Rousseau war also zunächst nur ein Name, verbunden mit einem grossen Garten auf der Avenue de Champel.»

Starobinski besuchte die Schule zwischen 1925 und 1926. In seinem Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv finden sich zwei interessante Dokumente im Zusammenhang mit dieser frühkindlichen Episode: ein Buch über die Schule, in dem sich ein Klassenfoto mit dem kleinen Jean befindet, und ein unveröffentlichter Bericht der Erzieherin Tatiana Globus, in dem sie das Auftreten ihres Schülers beschreibt:

«Monographie von Jeannot Starobinsky von Tatiana Globus.
Tatsächliches Alter – 5 Jahre 5 Monate
Geistiges Alter – 7 Jahre
Jeannot Starobinsky ist ein charmantes kleines Kerlchen mit braunen Haaren, dunklen, weichen und intelligenten Augen, einer kleinen Nase und einem nachdenklichen Gesicht. Sein ganzes Wesen hat einen aussergewöhnlichen Charme. Sein Gang ist leicht, wenn auch entschlossen, seine Bewegungen sind langsam, aber voller Anmut und Geschicklichkeit.»

Alle Themen, die Jean Starobinskis Erwachsenenleben prägen werden, sind bereits in diesen glücklichen Jahren präsent, insbesondere die Musik, dank der Einführung in die Rhythmik Dalcrozes und deren Instrumente. Davon zeugt auch das Porträt der Pädagogin Globus: «[Jean] ist sehr musikalisch und hat ein grosses Gefühl für Rhythmus. Er liebt Musik und freut sich darauf, ins Spielzimmer zu gehen, wo einer der Schüler ein paar schöne Jacques-Dalcrose-Melodien spielt. Die Musik bewegt Jean. Bei den ersten Klängen nähert sich [Jean] dem Klavier, schaut aufmerksam auf die Hände der Spielenden, die Lippen öffnen sich leicht, als wolle er die schönen Klänge schlucken. Dann bewegt er nach und nach seine Füsse, und ab einem bestimmten Punkt kann er nicht mehr stillhalten und beginnt zu tanzen.»

Auffällig an diesem Dokument aus dem SLA ist die Präzision seiner Beschreibung, deren Zuverlässigkeit und eine fast beunruhigende Weitsicht. Denn tatsächlich: Liest man sie im Lichte all dessen, was über Starobinskis Werk und Persönlichkeit bekannt ist, wirken die Worte seiner Erzieherin fast wie Hellseherei. Als ob alles, was Jean Starobinski werden sollte, in dem kleinen fünfjährigen Jungen bereits latent vorhanden gewesen wäre, bereit aufzublühen. Frau Globus schliesst wie folgt: «Als ein reizendes Kind verspricht der kleine Jeannot ein begabter und intelligenter Mann mit unabhängiger Kraft und Aktivität zu werden.»

Die Sammlung Jean Starobinski wurde 2004 vom SLA erworben; ihre Bibliothek mit 45'000 Büchern wurde ab 2011 in mehreren Etappen geliefert.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Starobinski präsentiert das SLA 2020 in Zusammenarbeit mit dem EPFL+ECAL Lab eine virtuelle Ausstellung, die das Ergebnis eines zweijährigen Forschungsprojekts ist. 

Letzte Änderung 26.11.2020

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