Ein Klumpen Gips, ein Stapel Papier

Ein Fund aus dem Archiv von Markus Werner lässt Fiktion und Realität verschwimmen. Schlicht verpackt, in einen weissen Plastiksack gehüllt, befand sich in einer der vielen Kisten, die Markus Werners Nachlass bargen, ein weiss-gräulicher Gipsklumpen.

Von Sophie Stäger

 
 
 
 
 

Bei der Lektüre von Markus Werners Romanen trifft der Leser regelmässigauf Aussteiger- und Aussenseiterfiguren. Sie alle werden ihres existenziellen Selbstverständnisses beraubt und stehen an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Dabei werden sie schonungslos beobachtet.

Ein Klumpen Gips
«[…] ich bin schlicht und einfach ein strohfeigendummes Kalb»: Zündel kauft an Stelle eines Revolvers ein Stück Gips
© Simon Schmid (NB)

Ihr erster und exemplarischer Vertreter ist Konrad Zündel aus Markus Werners Debutroman «Zündels Abgang» von 1984. Darin kann die Leserin Zerrissenheit, Schmerz und Demütigung, die den Protagonisten in der (Lebens-)Krise begleiten, fast körperlich mitfühlen. In Werners Roman wird Literatur greif- und spürbar. Dass das Romangeschehen nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch konkret fassbar werden kann, zeigt sich an einem Objekt aus Markus Werners Archiv.

Schlicht verpackt, in einen weissen Plastiksack gehüllt, befand sich in einer der vielen Kisten, die Markus Werners Nachlass bargen, ein weiss-gräulicher Gipsklumpen. Man würde ihn in einer Mulde erwarten, vielleicht in einem Steinbeet entlang einer Hausmauer. Dieser lag aber im Archiv, direkt neben Zeitungsartikeln und Büchern, zwischen Brillen, Portemonnaie und Korrespondenzstapeln. Er sieht ein bisschen aus wie ein Teil eines dicken, schweren Blumentopfuntersetzers, hat knapp in einer Hand Platz, ist unförmig und an der Längsseite etwas abgerundet. Auf drei Seiten weist er Bruchstellen auf. 

Ohne Zusatzinformationen wäre mit dem Klumpen wenig anzufangen, vielleicht würde er irgendwann Gegenstand von Spekulationen. Der gelbe Post-it-Zettel, der dem Klumpen beiliegt, gibt aber Aufschluss über dessen Bedeutung: «Zündels Abgang / Gipsklumpen gekauft anstelle einer Pistole». Jener Konrad Zündel hinterlässt im Roman «Schriftstücke, die Zeugnis ablegten von allerlei Widerfahrnissen und Tendenzen» sowie einen «trapezförmigen Gipsklumpen» und reisst aus seinem Leben aus. Der Klumpen, den er statt eines Revolvers erwirbt, leitet den Wendepunkt in seinem Leben und damit auch im Roman ein. Aus Höflichkeit darauf bedacht, auch gegen Ganoven keine Vorurteile zu haben, wird Zündel übers Ohr gehauen und erkennt darin sein grundsätzliches Versagen. Der Gipsklumpen wird zum Klotz am Bein, der ihn hinunterzieht, zum Symbol des Haderns, der «existentiellen Deplatzierheit», der falschen Scham und verlorenen Würde: «Würde – », lautet ein Satz in Zündels Notizen, «das ist der verzweifelte Versuch, angesichts unserer Nichtigkeit Haltung zu bewahren. Und ist das wünschenswert? ».

Kurz nach dieser Frage brechen Zündels Aufzeichnungen ab und das weitere Schicksal wird vom Erzähler entwickelt. Der Leser sieht von nun an nur noch das Resultat von Zündels Erkenntnis, die Einsicht in dessen Gedankenwelt bleibt ihm verwehrt.

Und genau wie die Gedanken des fiktiven Protagonisten, so bleibt auch die Geschichte hinter dem realen Gipsklumpen des  Schriftstellers im Geheimen: Requisit einer Theateraufführung? Fund eines Sonntagsspaziergangs? Inspiration? Zufall? Wir wissen es nicht. Als doppelt realgewordene Fiktion befindet sich Zündels Hinterlassenschaft nun aber, vereint in Manuskript und Gipsklumpen, fassbar und konkret, vollständig im Literaturarchiv.

Markus Werner (1944–2016) veröffentlichte 1984 den ersten Roman «Zündels Abgang», dem sechs weitere folgten, darunter 1992 «Bis bald» und 2004 «Am Hang». 2008 übergab er einen ersten Teil seines Archivs dem Schweizerischen Literaturarchiv; seit 2017, einem Jahr nach seinem Tod, befindet sich sein gesamter Nachlass in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern.

Letzte Änderung 26.05.2020

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