Eigentlich könnte man Markus Werners Gesamtwerk als «Schweizer Schatz» bezeichnen. Mein Bruder hatte mir zu meinem 28. Geburtstag Werners bis dahin letzten Roman Am Hang geschenkt. Am gleichen Tag las ich das gesamte Buch und gleich am nächsten Morgen, als die Geschäfte öffneten, ging ich los, um mir auch seine anderen Erzählungen zu kaufen (man merkt, ich bin ein unverbesserlicher Bücherkäufer - unverzeihlich eigentlich, für einen Bibliothekar). Ich fand fünf der verbleibenden sechs Bücher und las diese binnen zwei Wochen. Einzig auf seinen dritten Roman, Die kalte Schulter, musste ich vier Wochen lang warten, da er aus Gründen, die ich heute nicht mehr nennen könnte, in meiner Stammbuchhandlung kurzfristig nicht lieferbar war. Nach Wochen des vergeblichen Wartens bestellte ich diesen Schatz schliesslich aus den Magazinen der NB.
Und was ich an Werners anderen Geschichten bewunderte, fand ich in der kalten Schulter wieder - wie mir schien in noch grösserem Masse. Eine fein gezeichnete Hauptfigur, liebevoll beschrieben, niemals eindimensional, geschweige denn heldenhaft. Moritz Wank ist ein Sympathieträger zwar, und doch in einigen Facetten selbstmitleidig und zynisch mit einem Hang zur Selbstgerechtigkeit. Wahr- und Weisheiten wechseln sich in Wanks gedachten und gesprochenen Worten mit Banalitäten und Polemik ab. Teilweise steckt in einem einzigen Satz von jeder dieser Facetten etwas. Etwa wenn er den Schweizer Nationalsport, das Schiessen, als typisch schweizerisch bezeichnet, «weil es keine andere Sportart gibt, die auf so lautstarke Weise phantasielos ist».
Wenn man mich fragen würde, welches ich für Werners bestes Buch halte, könnte ich mich nur schwer zwischen Zündels Abgang und Am Hang entscheiden. Emotional berührt hat mich aber Die kalte Schulter am meisten. Es ist auf eine Weise traurig, die mir trost- und doch nicht hoffnungslos erscheint. Es gibt keinen Trost für Wank, nachdem er seine Gefährtin Judith verliert, die sich, in ihrer optimistischen und pragmatischen Art, vollkommen von ihm unterscheidet:
«‹Anderswo, sagte Wank, wird jetzt gefoltert, viele verhungern, und wir liegen unter einem burgunderroten Leintuch, ist das recht?›
‹Eine Schande ist es jedenfalls nicht›, sagte Judith, ‹wir sind zwei Verschonte, gut, und wir haben uns gern, ist das unrecht?›»
An anderer Stelle der Geschichte verfasste er ein kurzes Schreiben - ein «Gelöbnis» - für Judith. Es bringt einen vorsichtigen Optimismus zum Ausdruck, der Wanks anfängliche Antriebslosigkeit verdrängt. Nach dem Verlust von Judith zerrreisst er es zunächst, ehe er es in mühsamer Kleinarbeit wieder zusammenklebt.
Die kalte Schulter, wie auch Werners andere Romane, habe ich übrigens schon einige Male neu gekauft. Ich verleihe die Bücher, die mir wichtig sind, immer wieder und vergesse dann, an wen. Mir ist es aber wichtig, einige Werke immer im Bücherregal zu haben. Wenn ich nun nachsehe, steht da wieder einmal nur Zündels Abgang. Ich muss mich wohl erneut auf den Weg in die Buchhandlung machen.
Gegen Ende von Die kalte Schulter gibt es eine Stelle, in der der behinderte Nachbarsjunge Sämi bei Wank ist, der immer noch trauert. Dieser Teil gefällt mir sehr und ergibt, so finde ich, ein schönes Schlusswort:
«Das Gesicht bewegte er nicht aber gegen die Tränen war er wehrlos. Eine Weile stand Sämi vor ihm, stumm, mit offenem Mund, dann zog er sein rot-weiss kariertes Nastuch aus der Hosentasche, streckte es Wank entgegen und weinte mit. Nachdem sich Wank abgetupft hatte, gab er das Tüchlein an Sämi zurück, der sich übers Gesicht fuhr damit und es wieder Wank anbot. So ging das Tüchlein hin und her, lautlos und feierlich wie eine Friedenspfeife und als Wank leise lachte, lachte auch Sämi.»
Florian Steffen
Leiter Dienst Digitalisierung