Kleiner Cheque, grosser Preis

Der vor zehn Jahren verstorbene Waadtländer Autor Jacques Chessex ist der einzige Schweizer Schriftsteller, der bisher mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde.

Von Denis Bussard

 
 
 

Im November 1973 wurde der Roman «L’Ogre» («Der Kinderfresser») des Waadtländer Dichters und Romanciers Jacques Chessex mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten französischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Chessex, der in «Carabas» 1971 versprochen hatte, er werde «alle Preise, Auszeichnungen, Belohnungen und Diplome», die man ihm zusprechen werde, «persönlich abholen», musste nicht einmal reisen: Am 17. Dezember 1973 kamen fünf Mitglieder der Académie Goncourt nach Lausanne und übergaben ihm den Siegercheque über 50 Francs. «In der Regel greift man ihn nicht an, man rahmt ihn!», erklärte der Präsident der Académie bei dieser Gelegenheit – eine Anweisung, die Chessex buchstäblich befolgte. Die Bescheidenheit des Betrags sagt nichts über die symbolische Tragweite dieses Ereignisses aus – für Chessex wie für die Literaturgeschichte.

Kleiner Cheque, grosser Preis
Ganze 50 Francs: Der Cheque des Prix Goncourt und die Ausgabe von «L’Ogre».
© Simon Schmid, NB

Nach den erfolglosen Nominationen von Charles-Ferdinand Ramuz (1907) und Blaise Cendrars (1929) war Chessex der erste Schweizer Autor – und bis heute der einzige –, der diese prestigeträchtige Auszeichnung erhielt. Ein ausserordentlicher Umstand, den der Preisträger in seinem «Brief zum Goncourt 1974» unterstrich: «Man liebte in mir denjenigen, der den Jura überschritten hatte und zum ersten Mal (…) den Schriftstellern der Romandie ihren Adelsbrief erwarb. » Diese Preisvergabe wird als Erfolg im Bestreben um Anerkennung für die Eigenart und Qualität der Westschweizer Literatur interpretiert. Die gemeinsamen Bemühungen zweier Chessex nahestehender Personen – sein Freund und Berater François Nourissier sowie sein Verleger Bertil Galland –, trafen zusammen mit dem Willen des Präsidenten Hervé Bazin, die Académie Goncourt für die Frankofonie, das heisst die französischsprachige Literatur ausserhalb Frankreichs, zu öffnen. Diesem Anliegen entsprang auch die Reise der Delegation in die Schweiz und die Ernennung von ausländischen Korrespondenten der Académie. «Wir haben den Eindruck, dass wir, gefangen in unserem Parisertum, nicht aufmerksam genug dafür waren, was andernorts passiert ist», erklärte ihr Sekretär. «Die Ankunft der Goncourt-Delegation in Lausanne ist ein kultureller Akt, der einer Dekolonialisierung gleichkommt», schrieb Galland zugespitzt in «24 Heures».

Chessex war Mitte der 1950er-Jahre erstmals mit Gedichten an die Öffentlichkeit getreten. Als 39-Jähriger hatte er in der Romandie mit «Portrait des Vaudois» («Leben und Sterben im Waadtland», 1969) und «Carabas» (1971) beträchtliche Bekanntheit erreicht. «L’Ogre» erzählt das tragische Schicksal eines jungen Gymnasiallehrers, der durch die Tabus einer calvinistischen Gesellschaft erdrückt wird. Mit diesem preisgekrönten Roman erreichte Chessex ein breiteres Publikum und begann eine lange währende Zusammenarbeit mit dem Verlagshaus Grasset. Die Anerkennung in Frankreich hinderte ihn jedoch nicht daran, umso tiefere Wurzeln in seinem Geburtsland zu schlagen – im Gegenteil: Der Goncourt-Erfolg (mehr als 300000 verkaufte Exemplare) erlaubte ihm, sich endgültig im Waadtländer Hinterland einzurichten, wo er die Mehrzahl seiner späteren Werke schrieb, darunter «Le Vampire de Ropraz» («Der Vampir von Ropraz», 2007). 1979 wurde er als Schweizer Korrespondent der Académie gewählt und 2004 mit dem Goncourt-Lyrikpreis ausgezeichnet. Das gibt Hervé Bazin recht, der 1973 prophezeite: «Chessex wird Besseres als eine Karriere schaffen, er wird ein Werk erschaffen.»

Jacques Chessex. Der Autor wurde 1934 geboren und starb am 9. Oktober 2009 während einer öffentlichen Diskussion in Yverdon-les-Bains. Zu seinen Werken zählen «Portrait des Vaudois» (1969), «L’Ogre» (1973) und «Un Juif pour l’exemple» (2009). Chessex übergab 1995 sein Archiv dem SLA

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Kleiner Cheque, grosser Preis (PDF, 590 kB, 06.11.2019)Der Bund, Dienstag, 29. Oktober 2019

Letzte Änderung 30.10.2019

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