Aufgetaucht. Rilkes Adressbuch widerspiegelt dessen Reisen quer durch Europa – von Ost nach West und von Nord nach Süd.
Von Franziska Kolp
Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren, studierte in München und Berlin, bereiste Russland, hielt sich in der Künstlerkolonie in Worpswede auf, lebte in Paris, reiste nach Rom und durch Skandinavien, war während des Ersten Weltkriegs im Kriegsarchiv in Wien tätig und kehrte bei Kriegsende nach München zurück, von wo er in die Schweiz übersiedelte und da vorwiegend seine letzten Lebensjahre verbrachte.
Rilke war fast überall in Europa und nirgends zu Hause. Deshalb bildet sein umfangreicher Briefwechsel ein Briefwerk und zeugt von der Vielfalt seiner Kontakte. Nebst der Korrespondenz – es sind über 10‘000 Briefe des Dichters an zahlreiche Adressatinnen und Adressaten erhalten – ist sein persönliches Adressbuch, das ihm zur handlichen Verwaltung der einzelnen Adressen diente, der Knotenpunkt seines breiten Beziehungsnetzes, das er sich seit jungen Jahren geknüpft hat.
Dieses hat er gemäss eingeklebter Etikette bei der Firma F.A. Prantl in München erstanden. Es ist ein ansehnliches, sehr gediegen wirkendes Buch aus einem karmesinroten, wattierten Spaltledereinband, versehen mit der in goldenen Lettern gehaltenen Aufschrift „ADRESSES“. Es sind auf 153 Seiten über 1‘000 Namen und Adressen eingetragen, beginnend mit Andreas-Salomé, Lou, die Rilke 1897 in München kennengelernt hatte. Mit ihr unternahm er seine beiden Russlandreisen, die für sein literarisches Schaffen prägend und erweckend sein sollten. Der letzte Namenseintrag im vorgegebenen alphabetischen Verzeichnis lautet: „Zesewitz, Hans, Stadtbibliothekar Hohenstein-Ernstthal“. Dazwischen stösst man auf Adressen mit Angaben von Orten, die Rilke bereist hatte – quer durch Europa, von Moskau nach Paris und von Stockholm nach Rom. Darüber hinaus notierte er sogar Adressen auf dem amerikanischen und dem australischen Kontinent: in New York, Mexiko, Buenos Aires, Melbourne.
Insgesamt liest sich das Adressbuch als veritables „Who is who“ der europäischen Aristokratie und der Prominenz aus der Kunst- und Literaturszene des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Aus der Noblesse findet man Namen wie Gräfin Mary Dobrženský, Graf Rainer von Geldern-Egmont und Gräfin Wilhelmine, Gräfin Maria von Gneisenau, Thankmar Freiherr von Münchhausen, Baron Charlie und Baronin Sidie von Nádherný-Borutin, Comtesse Mathieu de Noailles, Fürstin Sophie zu Oettingen-Spielberg geb. Prinzessin Metternich, Fürstin Marie von Thurn und Taxis, Contessa Giustina di Valmarana. Unter den aufgeführten Denkern und Literaten sind: Walter Benjamin, Max Brod, André Gide, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Annette Kolb, Romain Rolland, Jean Rudolf von Salis, Paul Valéry, dessen Gedichte Rilke ins Deutsche übersetzte. Unter den bildenden Künstlern sind Paul Klee, Oskar Kokoschka und Leonid Pasternak, der den Dichter zwei Jahre nach dessen Tod vor dem Kreml sitzend porträtierte. Daneben verzeichnete Rilke auch ganz praktische Adressen, und zwar nicht nur solche seiner Verleger, sondern auch jene von Buchhandlungen, Banken, Hotels usw. Besonders hervorzuheben sind ausserdem die Einträge zu seinen Schweizer Mäzenen, zu Nanny Wunderly-Volkart sowie zu Georg und Werner Reinhart, die ihm ermöglichten, sich in der Abgeschiedenheit des Château de Muzot auf sein dichterisches Schaffen zu konzentrieren, sich neu zu inspirieren und so seine „Duineser Elegien“ zu vollenden.
Weitere Informationen
Von Andreas-Salomé bis Zesewitz (PDF, 2 MB, 20.09.2017)Der kleine Bund, Donnerstag, 16. September 2017
Veranstaltungen
Rilke und Russland. Trinationale Ausstellung Marbach – Bern, Zürich – Moskau.
Nationalbibliothek Bern, Strauhof Zürich, 15.09. – 10.12.2017.
Geöffnet Mi-Fr 12-18 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr
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