Zum 100. Geburtstag von Maurice Chappaz eine Rückkehr zum Naturschutz und zu alten Polemiken.
Von Denis Bussard und Vincent Yersin
Die Literaturszene der französischen Schweiz ist eigentlich nicht für Polemiken bekannt. Doch in den 1970er-Jahren haben einige Bücher einen Skandal provoziert, darunter die Maquereaux des cimes blanches (Die Zuhälter des ewigen Schnees, 1976) von Maurice Chappaz. Die «gute kleine Bombe», wie der Verleger Bertil Galland die Streitschrift einige Wochen vor Erscheinen des zweiten Bands der Reihe Jaune soufre (Gelber Schwefel) nannte, explodierte tatsächlich kurz darauf…
Chappaz‘ Anschuldigungen gegen die geldgierigen Bauträger, die mit Hilfe der Mächtigen das Wallis verscherbelten, folgen heftige Reaktionen. Die Tageszeitung Le Nouvelliste beispielsweise wirft Maurice Chappaz – «Sohn eines Bürgerlichen» – vor, unter dem Einfluss seiner «Waadtländer Freunde» das Ansehen des Kantons beschmutzt zu haben und im Namen eines mythischen Wallis die Errungenschaften der Modernisierung nicht anzuerkennen, von denen er persönlich profitiere. «Ich kann das Ende der Welt akzeptieren, aber ich bin nicht gezwungen, die sie begleitenden oder beschleunigenden Freveltaten zu akzeptieren», antwortet Chappaz in einem Interview. Die persönlichen Attacken gegen ihn führen dazu, dass die Schriftstellerverbände und die grossen Schweizer Tageszeitungen Stellung nehmen und die «Hexenjagd» auf den Autor anprangern.
Der Mediensturm, der durch dieses «Dichterpamphlet» ausgelöst wird, ist nur der sichtbarste Teil von Chappaz‘ Engagement. Sein Einsatz für die Umwelt, der nicht der Romantik entbehrt, durchzieht in verschiedenen Formen das ganze Werk, vor allem auch die zahlreichen Zeitungsartikel wie beispielsweise zum Schutz des Waldes von Pfyn-Finges. Ab 1948 griff Chappaz wirksam zur Feder, um den grossen Kiefernwald bei Sierre zu verteidigen, einen für ihn zentralen Ort der Liebe und des Umherstreifens mit S. Corinna Bille: «Diese Region darf nicht verstümmelt, nicht angetastet werden. Sie muss unter den Schutz aller Naturfreunde gestellt werden», schreibt er gegen das Waffenplatz-Vorhaben der Eidgenossenschaft an diesem Ort an. Ebenso wurden das Autobahnprojekt durch den Wald wie auch die Fluor-Emissionen der Aluminiumfabrik Chippis Thema zahlreicher Artikel von Chappaz.
Der Wald von Finges wird in seinen Augen zum Sinnbild für die Auswüchse einer gedankenlosen Industrialisierung im Wallis. «Ich hatte ein Häuschen im Zentrum des Sturms. Doch das ganze Wallis folgte Finges: alle Orte, jede kleine Heimat, die ich kannte und liebte, sind gemäss dem festgelegten Plan der Mörder zerstört, verschmutzt, ausgebeutet.»
Seine Angriffe auf die Akteure der Umweltzerstörung verlieren nicht an Heftigkeit, und noch bis in die späten 1980er-Jahre schockieren seine verbalen Exzesse. 1987, ein Jahr nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, entschärft die Wochenzeitung Coopération den Titel von Chappaz‘ Beitrag «Ich hoffe auf sichtbare Tschernobyls» durch eine weniger explosive Wendung: «Ich wünsche sichtbare Katastrophen». An die Stelle der Politsatire in Zuhälter des ewigen Schnees tritt die unverblümte Anklage: «Auf allen Gebieten – Politik, Tradition, Sitten, Geist, Materie – werden wir erleben, was hinter allem Fortschritt lauert: die Vernichtung. Welche Herausforderung! Ein Auschwitz der Natur oder ein Stalingrad der Industrie. Alles Predigen ist nutzlos. Nur noch der Fortschritt selber kann sich aufhalten, durch die Katastrophen, die er selber heraufbeschwört.» So die deutsche Übersetzung des Artikels, die im Tages-Anzeiger publiziert wurde.
Diese Texte eines Autors, der von seinen Zeitgenossen bisweilen als antimodern und «rückständig» bezeichnet wurde, scheinen heute für einen entschieden «progressiven» Diskurs zu stehen, und sie lassen uns von einer Zeit träumen, als Bücher – sogar diejenigen von Dichtern – Protest, Kontroversen und Medienstürme hervorrufen konnten.
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