Rund 200 Jahre trennen die kolorierte Aquatinta der «Marie Koenig» aus einem um 1820–1830 erschienenen Schweizer Trachtenzyklus von Selina Trepps (*1973) Werk «I’m Speaking» aus dem Jahr 2020. Trotz zeitlicher Distanz und unterschiedlichem Kontext gibt es Gemeinsamkeiten zwischen beiden Werken: Die darin gezeigten Frauen werden durch die farblichen Unterschiede in verschiedenen Abzügen individualisiert.
Die Lesbarkeit einer Druckgrafik hängt neben dem Motiv auch von ihrem äusseren Erscheinungsbild ab. Der Vergleich mehrerer Abzüge einer Auflage fördert dabei bisweilen erstaunliche Erkenntnisse zu Tage. Bei der Betrachtung der insgesamt 17 Farbholzschnitte von Selina Trepps Werk «I’m Speaking» sowie vier verschiedenen Versionen der «Marie Koenig» aus dem Trachtenzyklus «Recueil de Portraits et Costumes Suisses les plus élégants usités dans les 22 Cantons» zeigt sich, wie durch kleine Verschiebungen in der Farbgebung jedes einzelne Blatt zum Unikat wird. Der Umgang mit Farbe und der gezielte Einsatz farblicher Variation verbindet beide Werke über die Jahrhunderte hinweg.
Individualisierung durch Farbe
Das Werk «I’m Speaking» der Schweizer Künstlerin Selina Trepp umfasst eine druckgrafische Edition von 17 Farbholzschnitten sowie eine daraus entstandene Stop-Motion-Animation. Zentrales Motiv der Blätter ist das Porträt einer Frau: Ihr Blick ist direkt den Betrachtenden zugewandt, der Mund rot und – meist – leicht geöffnet. Die feinen Farbverläufe der Figur und ihrer Umgebung sind das Ergebnis der zugrundeliegenden traditionellen japanischen Holzschnitttechnik Mokuhanga. Dabei werden Wasserfarben von Hand und für jeden Druckvorgang von Neuem auf die Holzplatte aufgetragen und während des Druckvorgangs mit malerischer Qualität auf das Papier gepresst. Jeder einzelne Abzug wird so einzigartig. Bei Selina Trepp entstehen aus diesem Vorgang 17 Farbvarianten. Schwarze, ornamentale Muster in der Technik des europäischen Holzschnitts ergänzen den farbigen Mokuhanga-Druck. Der Vergleich der 17 Abzüge zeigt, dass sich insbesondere die Mimik des Mundes von Blatt zu Blatt unterscheidet. Indem Selina Trepp die Abzüge als Standbilder der Stop-Motion Animation zusammenfügt, wird daraus ein bewegtes Bild, das die Mundbewegung des titelgebenden Satzes «I’m Speaking» sichtbar macht.
Inspiriert wurde Trepps’ Arbeit von der damaligen Vizepräsidentschafts-kandidatin Kamala Harris, die während einer TV-Debatte sehr deutlich ihrem Kontrahenten Mike Pence mit ebendiesem ikonischen Satz begegnete, als dieser sie wiederholt unterbrach. In Selina Trepps Werk wird das Sprechen zum Akt der Emanzipation, die dargestellte Frau zur aktiven Protagonistin, welche die Betrachtenden direkt adressiert.
Differenzierung durch Kolorierung

Ein vergleichbares Spiel mit Farbvariationen findet sich in vier Aquatintablättern mit dem Motiv der «Marie Koenig» aus dem Album «Recueil de Portraits et Costumes Suisses les plus élégants usités dans les 22 Cantons», das um 1820–1830 in mehreren Auflagen bei Johann Peter Lamy in Bern und Basel erschien und insgesamt 32 Tafeln nach Vorlagen Jean Emmanuel Lochers (1769–1815) und Markus Dinkels (1762–1832) mit Trachten der damals 22 Kantone abbildet. Wirkt das unkolorierte Blatt in seiner Darstellung der St. Galler Tracht zunächst stereotyp, zeigen die unterschiedlich kolorierten Farbversionen der «Marie Koenig» eine erstaunliche Varianz von Bekleidung und Schmuck.

Der subtile Farbeinsatz zeugt von qualitativ hochwertiger Handarbeit. Ist bei der Holzschnitttechnik Mokuhanga die händische Einfärbung der Platte Teil des Druckvorgangs, erfolgte die Kolorierung des Blattes aus dem Trachtenzyklus nach dem Druck in feinster Handkolorierung. Während bei Selina Trepp die Farbversionen in ihrer Farbgebung in etwa gleichbleiben, sind die kolorierten Versionen der «Marie Koenig» in ihrer Farbigkeit sehr unterschiedlich. Trägt diese auf dem einen Blatt eine grüngemusterte Schürze, hat sie auf dem anderen eine gelbe umgebunden.

Warum gibt es diese farblichen Unterschiede in der Druckgrafik? Im 18. und 19. Jahrhundert war das Kolorieren eine widersprüchliche Angelegenheit. Einerseits überschwemmte seriell produzierte Massenware den Markt. Andererseits fertigten künstlerische Druckateliers handkolorierte Druckgrafiken mit hohem handwerklichem Anspruch an. In ihrem feinen Farbauftrag gleichen diese Blätter Handzeichnungen und wurden von einer Kennerschaft gesammelt. Obwohl Künstlerateliers bisweilen eigene Malstile formulierten, bleibt eine genaue Zuschreibung fast unmöglich, denn Koloristinnen und Koloristen arbeiteten meist anonym – so auch im Falle «Marie Koenigs». Gleichwohl machen der sorgfältige Farbauftrag und die Vielfalt der Farben die Abzüge zu Unikaten. Anhand der Ausmalung wird das Modell «Marie Koenig» differenziert und individualisiert. Aber auch die Urhebenden des Kolorits erhalten eine Eigenständigkeit: Die kolorierten Druckgrafiken unterscheiden sich von der Arbeit anderer Künstlerateliers und werden damit zu Originalen.

Trotz Unterschieden und zeitlicher Distanz finden die Werke von Selina Trepp und jene der Koloristen des Trachtenzyklus’ in der Farbvariation eine eigene Aussagekraft und Selbstständigkeit. In der Ausstellung «Farbraum», zu sehen in der NB vom 9. November 2024 bis zum 24. Januar 2025, kommen beide Werke miteinander ins Gespräch.
Literatur und Quellen
- Edition VFO: Selina Trepp. Februar 2021. Online verfügbar
- Pfeifer-Helke, Tobias und Lang, Francisca (Hrsg.): Die Koloristen. Schweizer Landschaftsgraphik von 1766 bis 1848, Berlin, München 2011.
- Staehelin, Walter August; Schaller, Marie-Louise; Achtnich, Walter: Locher, Gottfried - Löhrer, Johann Gottlieb. Inventar «Helvetica-Sammlung R. und A. Gugelmann», (Bd. 30).
- Vögele, Christoph: Tracht und Bild. Zur Bedeutung der Schweizer Tracht als Bildmotiv. In: Just, Marcel und Vögele, Christoph (Hrsg.): Die Pracht der Tracht. Schweizer Trachten in Kunst und Kunstgewerbe, Zürich 2017.
Letzte Änderung 23.10.2024
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