Zwei breitschultrige Boxer treffen auf neun schlanke Damen

Während ihres Aufenthalts als «Artist in Residence» im Venedig-Atelier des Istituto Svizzero di Roma im Jahr 2002 kreiert Fiorenza Bassetti eine Serie von Frauenbildern, die sogenannten «Donne di Venezia» (Frauen von Venedig). Im selben Jahr erschafft sie nebst diesen elegant anmutenden Frauenbildern noch zwei kräftig erscheinende Bilder von Männern, die sie «Pugile» (Boxer) betitelt. Diese auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinenden Serien haben dennoch etwas gemeinsam…

Von Christina Gerber

Die Künstlerin Fiorenza Bassetti reist vor 20 Jahren – im Jahr 2002 – für ein halbes Jahr nach Venedig, wo sie sich als Artist in Residence im Venedig-Atelier des Istituto Svizzero di Roma aufhält. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz hat sie unter anderem eine Serie von neun Frauenbildern, die «Donne di Venezia», sowie die «Pugili», zwei Darstellungen von Boxern, in ihrem Gepäck. Für die Entstehung dieser Figuren sind mehrere Faktoren massgebend gewesen, beide Serien sind jedoch mit Aspekten der Kunstgeschichte Venedigs verbunden. Sowohl den «Donne di Venezia» als auch den «Pugili» geht eine intensive Recherche Bassettis bei ihren Streifzügen durch die Museen Venedigs voraus. Sie bildeten die Grundlage für die Entstehung dieser Werke.

Einfluss vergangener Kunstgrössen Venedigs

Bassetti Pugile
Fiorenza Bassetti: «Pugile», 20 x 4 Briefbögen des Hotel des Bains - Venezia Lido, 2002
© Fiorenza Bassetti

Fiorenza Bassetti hat sich bei ihrem Venedig-Aufenthalt auch von der amerikanischen Mäzenin und Kunstsammlerin Peggy Guggenheim inspirieren lassen. Diese hatte 1948, im Geburtsjahr Bassettis, den Kauf des am Canal Grande gelegenen Palazzo Venier dei Leoni, der heute die Peggy Guggenheim Collection beheimatet, in die Wege geleitet. Während Bassettis Aufenthalt in Venedig fand darüber hinaus am Istituto Svizzero di Roma eine Ausstellung über den Fotografen Ernst Scheidegger statt, bei welcher unter anderem Porträts von Alberto Giacometti gezeigt wurden. Vierzig Jahre vor Bassettis Aufenthalt in Venedig, im Jahre 1962, war Giacometti dazu eingeladen worden, im Hauptpavillon der Biennale di Venezia eine Gruppe von Gemälden und Skulpturen auszustellen. Darunter befanden sich auch die «Femmes de Venise», die 1956 entstanden sind. Giacomettis Werk war schliesslich Inspirationsquelle für Bassettis italienisch bezeichnete Variante, die «Donne di Venezia».

Auch die «Pugili» Bassettis berufen sich auf einen Künstler, der in Venedig gewirkt hatte. Sie sind eine Hommage an den Glaskünstler Archimede Seguso, der in den 1930er und 1940er Jahren neben traditionellen Glas-Objekten und -Gefässen auch Figuren von Boxern geschaffen hatte, unter anderem in Anerkennung des damaligen italienischen Schwergewichts- Boxweltmeister Primo Carnera. Verschiedene dieser Glas-Figuren Segusos waren regelmässig an den internationalen Kunstausstellungen in Venedig zu bewundern.

«Donne di Venezia» und «Pugili» im Vergleich

Bassetti Pugile
Fiorenza Bassetti: Bein-Ausschnitt von «Pugile», mit Siliziumkarbid versehener Briefbogen des Hotel des Bains - Venezia Lido
© Fiorenza Bassetti

Zum Ende ihres Aufenthalts in Venedig arbeitet Fiorenza Bassetti an der Umsetzung ihrer Eindrücke und Recherchen: parallel entstehen die «Donne di Venezia» und die «Pugili». Beiden Werken liegt als Trägermaterial Briefpapier von venezianischen Hotels zu Grunde: Die «Donne di Venezia» bestehen aus einer Reihe von neun Frauenbildern. Jedes dieser Bilder misst circa 297 auf 84 cm. Sie setzen sich aus 40 respektive 80 Briefbögen namhafter venezianischer Hotels zusammen, in denen Alberto Giacometti nachweislich während seiner Aufenthalte in Venedig logiert hatte. Die beiden Boxer-Bilder sind ebenfalls aus einer Einheit von 4 mal 20 Briefbögen konstruiert. Die Boxer Bassettis lassen die gläsernen Boxer Archimede Segusos erkennen. Es fällt auf, dass Bassetti in beiden Werken die formalen Eigenschaften des Vorbilds übernommen hat: die schlanken, länglichen Figuren Giacomettis sowie die kräftigen, breit gebauten Boxer Segusos.

Die «Femmes de Venise» von Giacometti gibt es in hellen und dunklen skulpturalen Ausführungen mit stets rauer Oberfläche. Fiorenza Bassetti hat hingegen für ihre «Donne di Venezia» immer eine weisse, flache Papier-Silhouette auf schwarzen, mit Sepia-Farbstoff versehenem Untergrund gewählt. Die mit Siliziumkarbid gezeichneten «Pugili» Bassettis weisen jeweils eine grobkörnige, schwarze Gestalt auf weissem Untergrund auf. Im Kontrast dazu sind die von Archimede Seguso gestalteten Boxer-Figuren aus dem glatten Rohstoff Glas, auch davon gibt es helle und dunkle Versionen.

Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Bassetti Pugile
Fiorenza Bassetti: Umschlag und 80 Einzelblätter von «Pugile»
© Fiorenza Bassetti

Fiorenza Bassetti möchte mit ihren neun «Donne di Venezia» nicht die beiden «Pugili» in den Schatten stellen. Vielmehr verarbeitet sie in beiden Bilder-Serien ihre Zeit in Venedig und setzt ihr eigenes künstlerisches Schaffen mit dem anderer, von Venedig beeindruckten und beeinflussten Künstlern in Verbindung. Die Serien sind für sie von identischen Wert, auch wenn die beiden Werke die stereotypen Stärken und Kontraste des jeweiligen Geschlechts hervorheben: die «Donne di Venezia» als schlanke, elegante, selbstbewusst auftretende Frauen, die «Pugili» als kräftig gebaute, muskulöse, starke Männer. Mit ihren Neuschöpfungen während des Venedig-Aufenthalts zeigt Fiorenza Bassetti auf, auf welche Weise es möglich ist, an vergangene Kunstschaffende zu erinnern und so eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart zu bauen.

Fiorenza Bassetti, 1948 in Sorengo geboren, lebt und arbeitet in Bellinzona und Zürich. Von 1970–1974 Studium an den Kunstakademien in Paris, Rom und Mailand; 1974 Diplom der Malerei. Weiterführende Kurse für Radierungstechniken in Urbino, Venedig und Paris; Weiterbildung am School of The Art Institute of Chicago in Experimenteller Computer-Kunst. 1989 – 1990 Tätigkeit im Atelier des Centre genevois de gravure contemporaine. 1995 Stipendium der Schweizer SPSAS (heute Visarte). 1996 Gewinn des Fotografiepreises der Società Ticinese di Belle Arti (STBA). 1998 Aufenthalt am Istituto Svizzero di Roma in Rom, 2002 und 2004 Artist in Residence am Istituto Svizzero di Roma in Venedig. 2003 Stipendiatin vom Centro Studi Ligure per le Arti e le Lettere in Bogliasco. 2010 als erste Tessiner Künstlerin für das Förderprogramm der Sophie und Karl Binding Stiftung ausgewählt.

Literatur und Quellen

Letzte Änderung 20.07.2022

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