Nach einer Europa-Reise setzte der japanische Maler und Meister des Farbholzschnitts Hiroshi Yoshida (1876–1950) die Jungfrau ins Bild und verband dabei europäische und japanische Traditionen der Landschaftsdarstellung. Wie kam er zu seinem Motiv?
Von Lisa Oberli
1925 veröffentlichte der 49-jährige Hiroshi Yoshida einen Farbholzschnitt mit einer Ansicht der Jungfrau. Seine Darstellung jener weltberühmten «Titanin» des Berner Oberlandes aus einer relativen Nahsicht – wohl von der Wengernalp aus – liest sich gleichsam als deren Porträt: Die schneebedeckten Gipfel sind in hellen Blau-, Grau- und Weisstönen wiedergegeben, die charakteristischen Gebirgszüge mit scharf geschnittenen Linien klar umrissen. Jene Felsformationen, die steil ins schattige Lauterbrunnental abfallen, sind in dunklen Blautönen gehalten. Vom Talgrund steigen diffuse Nebel auf. Die kühle Farbpalette verweist auf die klirrende Kälte eines Wintertags im Hochgebirge und positioniert das erhabene Massiv in Himmelsnähe.
Schweizer Motiv – japanischer Farbholzschnitt
Mit der Wahl seines Motivs reihte sich Hiroshi Yoshida in eine jahrhundertealte helvetische Ikonografie ein. Zeitgleich zur Erkundung der Alpen durch Philosophen, Literaten, Wissenschaftler und Alpinisten brachten seit dem frühen 18. Jahrhundert auch Künstler die Schweizer Bergwelt und ihre «Eisgebirge» aufs Bild. Mit der Zeit verloren die furchterregenden Gletscher, Eisschilde und Felsmassen ihre Bedrohlichkeit und wurden zum «pittoresken Amüsement», das in Form von Bild und Text in die Wohn- und Studierstuben Einzug hielt. Seit dem 19. Jahrhundert führte die klassische «Oberland-Tour» Bildungsreisende aus aller Welt von Interlaken aus ins Lauterbrunnental, von dort zu Fuss, zu Pferd oder später per Bahn auf die Wengernalp und die Kleine Scheidegg und auf der anderen Seite wieder hinunter nach Grindelwald. Den schon von Bern aus zu erblickenden Fixpunkt dieser Reisen bildete meist die Jungfrau, die sich wie kaum ein anderer Berg zum Faszinosum entwickelte.
Yoshidas Ansicht der Jungfrau unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den Landschaftsveduten, die sich im Zuge der touristischen «Schweizerreisen» des 18. und 19. Jahrhunderts vielzählig verbreiteten. Weder saftige Alpwiesen noch urchige Alphütten rahmen bei ihm das Bild, auch effektvoll gesetzte Staffagefiguren und romantisch verklärte Hirtenszenen fehlen gänzlich. Die Besonderheit seiner Ansicht liegt vielmehr darin, dass sie ein Schweizer Bildmotiv mit den Techniken und Traditionen des japanischen Farbholzschnittes amalgamiert. Und dennoch gibt es eine thematische Parallele: Auch im japanischen Holzschnitt entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine Form der Landschaftsdarstellung, die berühmte Gegenden («meisho») und Landschaften («fū kei-ga») entlang von Reiserouten in den Fokus rückte und – ähnlich wie zur selben Zeit im Westen – die Erhabenheit und Schönheit der Natur romantisch verklärte.
Yungufurau Yama
Zu sehen ist beinahe nur der Berg, dieser jedoch in ausdifferenzierter Farbigkeit: Das in einem aufwändigen Mehrplattenhochdruck hergestellte Bild setzt sich aus zahlreichen Farbinformationen zusammen, für deren Wiedergabe ein jeweils eigener Druckstock verwendet wurde – mit bis zu vierzig davon arbeitete Hiroshi Yoshida für seine Holzschnitte. Die sich überlagernden und gleichsam ineinanderfliessenden Bildschichten nehmen Anleihen beim Aquarell.
Ein internationales Publikum adressierend, ist das Blatt sowohl in japanischer wie in lateinischer Schrift bezeichnet: Die japanische Signatur innerhalb des Bildes links unten wird am rechten unteren Bildrand entschlüsselt: «HiroshiYoshida» ist dort in romanisierter Schreibweise zu lesen. Gleiches gilt für den Titel: In japanischen Schriftzeichen («Katakana») steht am linken Bildrand «Yungufurau Yama», in lateinischer Handschrift unten links «Jungfrau».
Die Europa–Serie
Was brachte Hiroshi Yoshida auf die Jungfrau? Weit gereist und weltgewandt, wusste er um die anhaltende Begeisterung der westlichen Welt für die japanische Kunst. Seit der erzwungenen Öffnung Japans im Jahr 1854 gelangten japanische Holzschnitte massenweise nach Europa und in die USA und wurden zu gefragten Sammlerstücken. Von seinem Studium und Auslandaufenthalten in den USA und in Europa (1899 und 1903–06) kannte Yoshida nicht nur die westliche Malerei und deren Verwendung von Perspektive und Schattenwirkung, sondern auch westliche Sehenswürdigkeiten. Nach dem Grossen Kantō-Erdbeben im September 1923, das Tokyo verwüstete und viele japanische Künstler ihrer Lebensgrundlage beraubte, begab er sich mit seiner Frau erneut auf eine Reise durch die USA und Europa. Nach der Rückkehr im August 1925 gründete er eine eigene Werkstatt und gab eine Serie mit Farbholzschnitten von Attraktionen der Schweiz, Italiens, Griechenlands und Ägyptens heraus. Sein Blatt der Jungfrau steht darin in einer Reihe mit Ansichten des Wetterhorns, des Breithorns, des Matterhorns, der Stadt Lugano, eines Kanals in Venedig und der Ruinen der Akropolis und der Sphinx, die er wohl allesamt auf seiner Rückreise nach Japan in sein Bildrepertoire aufgenommen hat.
Vier der insgesamt sechs schweizerischen Ansichten von Hiroshi Yoshida gelangten 1953 in die Schweizerische Landesbibliothek und ergänzen dort die Grafiksammlung mit Orts- und Landschaftsansichten zur Schweiz.
Hiroshi Yoshida (1876–1950), japanischer Grafiker, Maler und Zeichner. Ab 1893 Studium der Malerei im westlichen Stil in Kyoto und Tokyo. Ab 1899 diverse Reisen in die USA und verschiedene europäische Länder. 1920 Übergang zum Holzschnitt. Bis 1923 Zusammenarbeit mit dem Verleger Watanabe Shōzaburō , der den traditionellen Ukiyo-e-Holzschnitt zum Shin-hanga, dem «neuen Holzschnitt» modernisierte. 1925 Gründung einer eigenen Werkstatt und Herausgabe verschiedener Drucke mit westlichen Landschaftsmotiven.
Literatur und Quellen
- Matthias Oberli: Von «Wunder-Bergen» und «Colossalischen Schreckenssäulen». Die Entdeckung der Gletscher in der Schweizer Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Roger Fayet, Regula Krähenbühl, Bernhard von Waldkirch (Hrsg.), Wissenschaft, Sentiment und Geschäftssinn, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2017, S. 32–54.
- Heinz J. Zumbühl, Samuel U. Nussbaumer, Hanspeter Holzhauser, Richard Wolf (Hrsg.): Die Grindelwaldgletscher: Kunst und Wissenschaft, Bern: Haupt, 2016.
- Katharina Balmer: Als Gletscher noch aus Eis waren. Jungfrauregion einst und jetzt, Bern: Ott, 2015.
- Daniel Anker: Jungfrau, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.02.2008.
- Tadao Ogura, Yoshida Hiroshi zen mokuhangashū = The complete woodblock prints of Yoshida Hiroshi, Tokyo: Abe Shuppan, 1987.
- Friedrich B. Schwan, Handbuch japanischer Holzschnitt: Hintergründe, Techniken, Themen und Motive, München: Iudicium, 2003.
Letzte Änderung 01.05.2023
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