Die Freundschaft zwischen Jean Tinguely (1925–1991) und Bernhard Luginbühl (1929–2011) war verspielt, spannungsreich – und brachte zahlreiche gemeinsam geschaffene Werke hervor. 1988 spannen die beiden im Medium der Druckgrafik zusammen und erschaffen einen Stier, ein Nashorn und ein Dornentier («Dornier»).
Von Lisa Oberli

«Dornier», 1988
© 2025, ProLitteris, Zurich* / Familie Luginbühl
Seit den 1970er-Jahren «strickt» und «kritzelt» Bernhard Luginbühl an seinen Lebensgeschichten und befüllt damit stattliche Tagebücher. Sein Schreiben folgt dem stetig fliessenden Denkstrom und verbindet alltägliche Erlebnisse, Begegnungen und Zufälle zu einem dichten Erzählstrang. Eine Konstante in diesen Schilderungen ist zeitlebens sein engster Freund Jean Tinguely. So auch am 27. Juli 1988: «an zwei kupferstichen von Jeano kommt dickeres drauf aus meinem mitteldünnen stichel» notiert Luginbühl an diesem Mittwoch. «Jeano», das ist sein liebevoller Kosenamen für Tinguely, den er seit 1956 kennt. Mit dem «Stichel» benennt Luginbühl ein Gravierwerkzeug für das jahrhundertealte Tiefdruckverfahren des Kupferstichs. In den Folgemonaten der Jahre 1988 und 1989 häufen sich Luginbühls Tagebuchnotizen zur druckgrafischen Kollaboration mit Tinguely. Seine Erzählungen geben Einblick in die Entstehung der drei Tiefdrucke «Stier avec Black Nuvola», «Mechanisiertes Nashorn» und «Dornier» – und in die prozesshafte, Hand in Hand gehende Arbeitsweise der beiden Freunde.
Zusammen Radieren

© 2025, ProLitteris, Zurich* / Familie Luginbühl
Alle drei Werke verbindet eine gleichsam ineinanderfliessende Autorschaft im Medium der Druckgrafik. Denn Jean Tinguely und Bernhard Luginbühl gravieren die ihnen zu Grunde liegenden Druckplatten gemeinsam. Hierfür gehen die Metallplatten zwischen den Künstlern monatelang hin und her, werden von beiden mehrfach überarbeitet. Dabei verdichtet sich das Schicht für Schicht in die Platte radierte Liniengeflecht stetig. Zu beobachten ist dies beim «Dornier». Die Radierung auf Kupfer erscheint erstmals 1988 in einer nummerierten Auflage von 20 Exemplaren, signiert von Luginbühl und Tinguely. Aus dem abstrakten Strichgefüge tritt nach einiger Zeit ein reptilienartiges, dorniges Tier mit spitzen Stacheln und Zacken hervor. Stammen die festen, klaren Linien eher von Luginbühl und die feinen, skizzenhaften eher von Tinguely? Im Nachgang scheint eine Unterscheidung der involvierten Hände diffizil. Dem zufälligen, unbewussten Zusammenspiel kommt in diesem kollektiven Werk eine bedeutende Rolle zu – nicht unähnlich der surrealistischen Methode des Cadavre exquis, einem kollaborativen Zeichenspiel mit gefaltetem Papier.
Stilkritik

© Familie Luginbühl
Dabei setzten sich Luginbühl und Tinguely auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Tiefdruck auseinander. Bernhard Luginbühl hat die Kunst des Radierens und Kupferstechens seit den 1960er-Jahren perfektioniert. Er kennt die technischen Kniffe im Umgang mit Radiernadeln und Kupfersticheln aus langjähriger Beschäftigung, setzt diese gezielt ein. Erscheint die Strichbildung seiner Radierungen oft frei und wild, ist sie bei den Kupferstichen häufig geprägt von klaren, elegant geschwungenen Linien und präzisen Schraffuren. Demgegenüber ist Tinguelys Radiertechnik flüchtiger und in Bezug auf die angewandten Werkzeuge explorativer. Luginbühl bewundert dies in einem Tagebucheintrag vom 2. Oktober 1988: «[…] jeano kratzt während des erzählens gleich zwei radierungen. die platten werden mit allen in der nähe liegenden scharfen utensilien malträtiert. keine schlechte idee dachte ich mir mit einer alten tintenschreibfeder zu radieren. mit allen verschiedenen geschliffenen messern schabte, schnitt, kratzt und stocherte er auch mit einer blossen kartonmesserklinge, auch mit einem nagel ect.»
Druckprozess

© Familie Luginbühl
Gedruckt wird oft beim Tiefdrucker Raymond Meyer (*1943) in Lausanne. Am 30. Juli 1988 schreibt Luginbühl zum Druck der Werke «Stier avec Black Nuvola» und «Mechanisiertes Nashorn»: «soll nach lausanne gehen um den winzlingsstier mit dem tinguelyhintergrund zu drucken. […] während ich am spinnwebenstier (nashornstier) rumstrickte druckt raymond zwei nashörner die ich auf die platte gestochen habe die mir jeano dagelassen hatte». Fünf Tage später, am 3. August 1988, folgt dann Tinguelys Auftrag zum Druck einer autorisierten Auflage des Stiers: «[…] jeano läutet an, er hat das kupferstierchen heute bekommen und läutete sofort an. ich solle eine auflage für freunde drucken». Gegenseitige Instruktionen und Änderungswünsche werden meist per Telefon übermittelt – Tinguely und Luginbühl hängen ständig am Draht. Vom gemeinsam gravierten Stier sind so insgesamt sechs Überarbeitungszustände überliefert. Der Druck der Platten wird so lange wiederholt, bis ein (vorläufig) annehmbarer Zustand erreicht ist.
Signierstunde
Was bedeutet es, als Künstlerfreunde zusammenzuarbeiten? Spannungsvolle Symbiose? Gegenseitige Anregung? Eine Einladung zum Gespräch? Im Falle von Luginbühl/Tinguely ist die künstlerische Zusammenarbeit meist verbunden mit lukullischen Genüssen. Durch Luginbühls Tagebücher kennen wir die Umstände, unter denen am 5. Februar 1989 das Dornentier signiert wird: «ursi läutet an um die kleinen “DORNIER” zu signieren auf dem rückweg von lausanne. […] signierstunde in jeanos küche, signierstunde und plaudern zu viert ursi, micheline, jeano und ich, trinken eine flasche waadtländerweisswein, küchengeplapper könnte man es nennen was über den tisch geht.»
Die Eisenplastiker Jean Tinguely (1925–1991) und Bernhard Luginbühl (1929–2011) verband eine jahrezehntelange Freundschaft. Kennengelernt hatten sie sich 1956 in Bern, ab 1970 intensivierte sich ihre Verbindung. Sie mündete in zahlreichen gemeinsamen Ausstellungen, Kollaborationen, Projekten und Aktionen. Bis zuletzt blieb Luginbühl an Tinguelys Seite, als dieser 1991 im Berner Inselspital verstarb. 1996 erstellte Luginbühl eine filmische Biografie seines Freundes, 1997 veröffentlichte er die ihm gewidmeten Tagebuchnotizen.
Literatur und Quellen
- Marianne Aebersold, Paul Tanner, Bernhard Luginbühl. Die Druckgraphik 1945-1996, Ausstellungs-Katalog, Ostfildern-Ruit: Verlag Gerd Hatje, 1996.
- Jochen Hesse: Der populäre Künstler. Das Beispiel Bernhard Luginbühl, Bern u.a.: Peter Lang, 2008 (Europäische Hochschulschriften Reihe 28, Band 431).
- Bernhard Luginbühl (Hg.), JT. Tagebuchnotizen von Bernhard Luginbühl oder ein Rezept für Zwiebelfischsuppe, Basel: Museum Jean Tinguely / Bern: Benteli, 1997.
- Bernhard Luginbühl: Tagebuch «Ein Datum ins Rote […] habe ich Glück 88».
- Bernhard Luginbühl: Tagebuch «Das Buch ist so schön feiern die Steinmetze».
- Bernhard Luginbühl: Tagebuch «1988 1989 : Luginbühl».
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Letzte Änderung 10.06.2025
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