«Abscheuliche Eisberge» prächtig in Szene gesetzt

Im langen Kleid auf «Gletscherfahrt»… Dass das Hochgebirge Ende des 19. Jahrhunderts für die breite Bevölkerung zum Reiseziel wird, hängt direkt mit der Entwicklung der Alpinfotografie zusammen. Die Gebrüder Wehrli – Fotografen und Alpinisten – betreiben ab 1895 einen Ansichtskartenverlag in Kilchberg, der zur Popularisierung der alpinen Welten massgeblich beiträgt.

Von Kathrin Gurtner

Wehrli Gletscherspalte
Abenteuerliche Überquerung einer Gletscherspalte (Archiv Wehrli, 1909)

Bis ins 18. Jahrhundert verhindern Aberglauben und Furcht vor Gefahren die Erschliessung der Alpen. Auch künstlerisch bleibt man auf Distanz. Landschaftsmaler idealisieren die Bergwelt, ohne je einen Fuss in die Nähe des Hochgebirges gesetzt zu haben.

Auf seiner 1769 herausgegebenen Schweizerkarte bezeichnet der Pfarrer und Geograf Gabriel Walser (1695–1776) Gletschergebiete pauschal als «Abscheuliche Eisberge». Erst naturwissenschaftlich motivierte Exkursionen während der Aufklärung und das Naturverständnis der Romantik vermögen Interesse an der Schönheit und Erhabenheit der Bergwelt zu wecken.

Parallel zur Entdeckung und Erforschung des Alpenraums entwickelt sich die Alpinfotografie und löst in der breiten Bevölkerung einen bis dahin ungekannten Enthusiasmus für den Bergsport aus. Die Alpinfotografie bietet von Anfang an spezielle künstlerische und technische Herausforderungen und ist erfüllt vom Ruch des Aussergewöhnlichen und des unkalkulierbaren Risikos. Das Licht ist intensiv, die Chemikalien reagieren empfindlich auf Wetter und Luftdruck und lassen die Fotografieraktion schnell zum Misserfolg werden. Auch wenn ab 1880 Gelatine-Trockenplatten auf dem Markt sind, die Chemikalien und Laborzelt auf dem Berg erübrigen, muss Material mit einem Gewicht von mindestens 15 kg mitgetragen werden.

«Ich bin fest entschlossen, (…) jedes Jahr einige Berge, oder wenigstens einen, zu besteigen»

Eiskegel
Zwei Männer posierend nach der Besteigung eines Eiskegels (Archiv Wehrli, 1906)

Die Begeisterung am Bergsteigen, die Bewunderung für das Hochgebirge, die Conrad Gessner (1516–1565) in einem Brief an einen Freund schildert, beseelt auch die Alpinfotografie des 19. Jahrhunderts. Nachdem das Hochgebirge anfänglich nur Naturforschenden, Aristokraten und Aristokratinnen vorbehalten war, bringen jetzt die für alle erschwinglichen Ansichtskarten auch den wirtschaftlich schwächeren Schichten die Schönheit und Schroffheit der Alpen näher und machen sie zu einem Sehnsuchtsort.

Gornergrat
Reisegruppe auf dem Gornergrat mit Blick auf Monte Rosa und Liskamm (Archiv Wehrli, 1905)

Die Bilder zeigen verwegene Männer und - für die damalige Zeit verblüffend - auch Frauen, die über riesige Gletscherspalten kraxeln, klettern, balancieren und spitze Eiskegel erklimmen. In aus heutiger Sicht ungenügender Ausrüstung, teils bekleidet mit schicken Hütchen und langen Röcken, ausgerüstet mit Sonnenschirm und Pickel erkunden sie die Gletscherwelt. Oft nur notdürftig gesichert und umständlich mit Leitern bestückt, bewegen sich die kühnen Alpinisten und Alpinistinnen durch die gewaltigen Eismassen, von denen wir heute in Zeiten des Klimawandels nur träumen können.

«Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön es hier war…»

Breithorn
Seilschaft bei der Besteigung des Breithorns (Archiv Wehrli, 1905)

In ihrem Hit von 1974 «Du hast den Farbfilm vergessen» stampft Nina Hagen vor Wut und Enttäuschung darüber, dass sie ihren Ausflug nur in traurigem Schwarz-Weiss festhalten kann. Was 1974 wichtig ist und heute noch stimmt, nämlich Erlebtes möglichst eindrucksvoll im Bild zu dokumentieren, ist auch im 19. Jahrhundert von grösster Bedeutung. Dass der Farbfilm fehlt, stört damals niemanden – im Gegenteil, die Gebrüder Wehrli wissen mit den Vorzügen der Schwarz-Weiss-Fotografie virtuos umzugehen. 

Die Brüder Bruno (1867–1927), Harry (1869–1906) und Artur (1876–1915) Wehrli zählen in der Schweiz zu den erfolgreichsten Fotografen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie betreiben ab 1895 in Kilchberg ein florierendes Fotogeschäft. Am Puls der Zeit agierend, gründen sie 1904 einen eigenen Verlag, um am boomenden Geschäft mit dem Verkauf von Ansichtskarten teilzuhaben. Bei den Gebrüdern Wehrli paaren sich fotografisches und bergsteigerisches Können. Sie sind massgeblich an der bildlichen Erschliessung des alpinen Raums beteiligt und prägen das offizielle Bild der Schweiz mit Fotografien von mächtigen Viertausendern und Gletscherwelten mit. Die weltweite Gletscherschmelze gibt den Hochgebirgsaufnahmen heute eine neue Brisanz.

Die kraftvollen Aufnahmen zeichnen sich durch einen speziellen «Wehrli-Look» aus, der sie fast unverkennbar macht: starke Kontraste in sattem Schwarz-Weiss, Liebe zu Genauigkeit und Schärfe, Klarheit im Bildinhalt, Verzicht auf schwärmerische Dramatik. Dazu kommt oft der schwarz belassene Rand mit Bildlegende.

Die Gebrüder Wehrli machen sich seit 1895 in Kilchberg ZH mit ihren fast dokumentarisch anmutenden Landschafts- und Siedlungsfotografien der ganzen Schweiz einen Namen. 1904 gründen sie den Verlag Wehrli AG. 1920 erwirbt das Verlagshaus Orell Füssli die Aktienmehrheit der Wehrli AG. 1924 erfolgt die Fusion mit der Photoglob AG in Zürich. Nach dem Übergang zur Produktion von farbigen Ansichtskarten übergibt die Photoglob AG dem Eidgenössischen Archiv für Denkmalpflege EAD die Unterlagen zu allen Produktionsstufen der schwarz-weissen Ansichtskarten, darunter über 160’000 lose Bildträger. 2007 wird des EAD der Schweizerischen Nationalbibliothek angegliedert und Photoglob übergibt der NB sämtliche Rechte an den Fotografien.

Literatur und Quellen

Letzte Änderung 22.04.2024

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