«Heute Crocrodromabriss»: Entstehen und Vergehen einer Monumentalplastik

Nur sechs Monate wird die gigantische Installation «Le Crocrodrome de Zig et Puce» 1977 im neu eröffneten Centre Pompidou in Paris gezeigt und danach zerstört. In Notizen und Tagebucheinträgen erzählt der Berner Eisenplastiker Bernhard Luginbühl (1929–2011) vom Auf- und Abbau des spektakulären Werks – und von seinen Freundschaften.

Von Lisa Oberli

Ruckzuck Luginbühl
Bernhard Luginbühl, Tagebuch «Ruckzuck Luginbühl», 1978 (Foto: NB, Simon Schmid)
© Erbengemeinschaft Luginbühl

«also heute beginn mit dem crocrodromabriss», vermerkt der seit den ersten Tätigkeitsjahren minutiöse Tagebuchschreiber Bernhard Luginbühl am 2. Januar 1978 in sein neues Diarium mit dem Titel «Ruckzuck Luginbühl». In Kleinbuchstaben und schülerhaft geschwungener Schreibschrift, voller Wortwitz und mit rastloser Energie berichtet er darin von den Ereignissen rund um die Zerstörung der Monumentalplastik «Le Crocrodrome de Zig et Puce». Auch in Luginbühls Notizheften der Jahre 1977–78 finden sich Hinweise auf das Entstehen und Vergehen der gigantischen, begehbaren Installation. Seit dem 1. Juni 1977 wird diese in der Eingangshalle des Centre Pompidou gezeigt und übernimmt als jahrmarktartige Attraktion für Kinder und Erwachsene eine wichtige Funktion im Eröffnungsjahr des revolutionären Museumsbaus.

Kollaboration

Das rund 30 Meter lange und 10 Meter breite Werk entsteht in einem kollaborativen Arbeitsprozess. Luginbühls enger Freund Jean Tinguely fungiert als Ideengeber für das Ungetüm in drachenförmiger Gestalt. Unter dem Pseudonym «Zig et Puce» tragen nebst  Bernhard Luginbühl auch Niki de Saint Phalle, Daniel Spoerri sowie ihre Assistenten eigenständige Teile bei. Auf- und Abbau des «Crocrodrome» sind stetige «work in progress» der beteiligten Künstler, die schon oft zusammengearbeitet haben.

Crocrodrome
Centre Pompidou, Plakat «Le Crocrodrome de Zig & Puce», basierend auf einer Zeichnung von Bernhard Luginbühl, Paris, 1977
© Erbengemeinschaft Luginbühl / Centre Pompidou Paris

Niki de Saint Phalle gestaltet den gezackten Drachenkopf mit auf- und zuklappbarem Kiefer. Jean Tinguely entwirft u.a. den Bauchraum mitsamt darin integrierter Geisterbahn sowie den Rücken mit Räderwerken, Gestängen und farbig blinkender Leuchtschrift. In einer Längsseite richtet Daniel Spoerri sein «Musée sentimental» und den vorgelagerten Kiosk «Boutique aberrante» ein. Bernhard Luginbühl entwirft das Hinterteil mit rostigen Eisenplatten und beweglichen Rohren. Ein Hinterbein lässt er mit Schokolade überziehen. Zwischen den Füssen bringt er seinen «Tell-Flipper» unter. Die Konstruktionsarbeiten beginnen im März 1977. Am 1. Juni, dem Tag der Vernissage, ist das «Crocrodrome» unvollendet. Weitergebaut wird bis zu seinem Ende im Januar 1978. Der Austausch der Künstler zum Werk ist rege – und Bernhard Luginbühl steht schweissend, zeichnend und schreibend mittendrin. 

Es spukt mir im Kopf...

Bereits ab Anfang 1977 befüllt Luginbühl zwei Hefte mit «Crocrodromenotizen». Beide beginnt er mit kritischen Äusserungen zum Neubauprojekt des Centre Pompidou. Erstellt auf dem ehemaligen Areal des Grossmarktes Les Halles sowie eines zwielichtigen LKW-Parkplatzes, fusse dieses auf den Trümmern eines ganzen Stadtviertels, so seine Ansicht: «das ausmass der zerstörung eines ganzen pariserquartier zeigten ein opferloch also um in diesem gigantenloch einmal den keller zu machen zum grössten modernen kunstmuseum der gegenwart». Dennoch beteiligt sich Luginbühl voller Elan am «Crocrodrome» und rezykliert dafür sogar Bauabfälle aus dem Neubau.

Crocrodrome
Bernhard Luginbühl, Notizhefte zum Crocrodrome, 1977–1978 (Foto: NB, Simon Schmid)
© Erbengemeinschaft Luginbühl

Anfang 1977 notiert er nach einer Besichtigung des soeben neu eröffneten Museums mit dessen Gründungsdirektor Pontus Hultén: «wir können für unser KROKRODROM eisen aus einer vorhergegangenen ausstellung erben. ein milimeter rosteisen wie konstruktionsabfall des museumsneubau». Ab April 1977 entwickelt Luginbühl dann genauere Baupläne zum «Crocrodrome» zuhanden von «Jeano» (Jean Tinguely): «es spukt mir im kopf die bleche zu karossieren», schreibt er und fügt an, welches Gittersystem er dafür einplant und wie er die Bleche annieten und verschweissen möchte. 

Bühne frei zum Drama

Crocrodrome
Centre Pompidou, Todesanzeige für das Crocrodrome, Paris, 1977 (Foto: NB, Simon Schmid)
© Centre Pompidou Paris

Nach einjähriger Planungs-, Bau- und Ausstellungszeit folgt im Januar 1978 der Abriss des Werks. Detailreich schildert Luginbühl in seinem Tagebuch, wie er mit Frau und Kind und stets umgeben von seinen Freunden «Jeano» und Daniel Spoerri am 2. Januar im Centre Pompidou in Paris einfährt, um mit ihren Assistenten die Abbrucharbeiten zu beginnen: «crocrodromabriss, sepp turnt wie wild bricht eisen los, demontiert die mechanik […]». Am 4. Januar sackt das «Crocrodrome» in sich zusammen und die Arbeiten nehmen ihren Lauf, «[…] trotz reklamationen vom beaubourgpersonal fallen die eisenstücke oft donnernd auf den heiligen betonmuseumsboden». Gleichentags fällt Jean Tinguely vom zusammenbrechenden Werk und muss mit «hirschlederschmerzgesicht» aufgeben. Am 6. Januar wird Luginbühls «[…] blechhintern am CROCRODROM […] atakiert, die grossen rohre fallen krachend und jeano kanns deutlich am telefon hören als sich ursi am beaubourgtelefon um seinen rücken informieren will.» Das finale Ende setzt eine Todesanzeige zum Gedenken des «Crocrodrome», datierend vom 19. Januar 1978. 

Die Notizen und Tagebucheinträge zum «Crocrodrome» sind kurze Passagen jener reichhaltigen Künstler(tage)bücher, die Bernhard Luginbühl zeitlebens geschaffen hat. Die einzigartigen Bände sind für die Erforschung seines eigenen Œuvres sowie desjenigen befreundeter Kunstschaffender hochrelevant. Seit 2019 werden sie in der Graphischen Sammlung der NB aufbewahrt.

Bernhard Luginbühl (1929–2011), 1949 autodidaktische Ausbildung zum Eisenplastiker, danach ist Luginbühl als Eisenplastiker, Aktionskünstler, Zeichner, Grafiker tätig und in zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen vertreten. Eher im Verborgenen erschafft er seit den ersten Tätigkeitsjahren und bis zu seinem Tod 2011 eine Serie von Künster(tage)büchern, in denen er sein eigenes Schaffen, die Kunst, das Essen und seine Freundschaften reflektiert.

Literatur und Quellen

Letzte Änderung 15.06.2023

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