Beim Bau eines Gebäudes wird mancherorts ein uralter Brauch gepflegt: Nach dem Ausheben der Baugrube wird in einer feierlichen Zeremonie der Grundstein gelegt. Im Stein eingeschlossen ist oft eine Zeitkapsel, welche Dokumente aus der jeweiligen Zeitepoche enthält und erst nach langer Zeit wieder geöffnet wird, ja zuweilen in Vergessenheit gerät.
Der Brauch der Grundsteinlegung wird weltweit seit biblischen Zeiten gepflegt. Da erstaunt es, dass eine Gedächtnisinstitution wie die Schweizerische Nationalbibliothek (NB) in einem Gebäude untergebracht ist, das 1929–1931 ohne Grundstein errichtet wurde. Dieses «Manko» lässt darauf schliessen, dass während des Aufbruchs in die architektonische Moderne diese noch heute lebendige Tradition nicht hoch im Kurs stand.
Versäumtes wird nachgeholt
Gut 60 Jahr später, als der «Bücherturm», also das urprüngliche Büchermagazin, bereits mehr als voll war, wurde der Bau eines ersten Tiefmagazins für die NB beschlossen. Die Aushubarbeiten in unmittelbarer Nähe des bestehenden Gebäudes verlangten aufwändige Massnahmen zum Stützen der Baugrube. Mittels hunderten von Verpressankern wurden die zuvor erstellten Schlitzwände zurückgehalten. Erst wenn auf einem Niveau der Baugrube Anker gesetzt waren, konnte eine weitere Schicht Erdreich ausgehoben werden.
Im Juli 1995 klaffte mit 26 Metern schliesslich die tiefste und voluminöseste Baugrube, die bis dahin in der Stadt Bern ausgehoben worden war. Quasi auf dem Scheitelpunkt des Jubiläumsjahrs «100 Jahre Schweizerische Landesbibliothek (SLB)», wie die NB bis Ende 2006 hiess, war der Moment für die Grundsteinlegung gekommen.
Feierlicher Akt …
Die Zeremonie fand am 18. Juli 1995 unter Mitwirkung von Bunderätin Ruth Dreifuss, der damaligen Innenministerin und somit auch oberste Chefin der Bibliothek, statt. In ihrer Ansprache hat sich die Magistratin zum aktuellen und künftigen Auftrag der Bibliothek geäussert.
Beim anschliessenden «handwerklichen» Teil nahm Dreifuss nicht wie üblich eine Maurerkelle in die Hand, um den Grundstein einzumauern. Stattdessen oblag es ihr, in der Baugrube die Vertiefung für den Grundstein zu schaffen, allerdings nicht mit Pickel und Schaufel, sondern auf viel spektakulärere Weise. Der am Bau beteiligte Architekt Kurt Gossenreiter hatte eine ausgefallene Idee: Er liess einen etwa zwei Meter langen Pfeil aus Chromstahl am Haken des Baukrans schweben.
… mit Knalleffekt
Die Bundesrätin zündete per Knopfdruck einen Feuerwerkskörper, welcher den Pfeil vom Haken sprengte, worauf er in die Baugrube hinunter fiel und sich ins Erdreich bohrte. Zur allgemeinen Erheiterung der Anwesenden füllte sich das entstandene Loch mit Rauch, wie sich Projektleiter Horst Knaupp vom damaligen Amt für Bundesbauten (AFB) auf Anfrage lebhaft erinnert. Der Pfeil befindet sich heute in einer Holzkiste verpackt im obersten Stock des Tiefmagazins Ost.
In den Medienberichten über den Anlass blieb übrigens auch Dreifuss’ geschienter rechter Fuss nicht unerwähnt – auf dem «Bundesratsreisli» Ende Juni hatte sie sich den Knöchel gebrochen. An der Grundsteinlegung ebenfalls teilgenommen haben u.a. David Streiff, Direktor des Bundesamtes für Kultur, Willy Treichler als Projektleiter Nutzer, Paul Rieben von der Koordinationsstelle Bauten Zivil der Eidgenössischen Finanzverwaltung, sowie Vertreter der Architektengemeinschaft «Andreas Furrer und Partner», Kurt Gossenreiter und «Schenker Stuber von Tscharner Architekten».
Das Geheimnis unter der Steinplatte
Grundsteine können unsichtbar im Fundament oder im Gebäudesockel eingemauert sein; sie kommen dann erst bei der Zerstörung des Gebäudes wieder zum Vorschein. Manchmal wurden und werden auch sichtbare Grundsteinplatten ins Mauerwerk eingesetzt. Beim «Grundstein» des NB-Tiefmagazins Ost handelt es sich um eine Bodenplatte mit der folgenden Inschrift:
Grundsteinlegung
vom 18. Juli 1995
durch Bundesrätin
Ruth Dreifuss
Diese gesprenkelte Steinplatte ist in einem Metallrahmen eingelassen und bildet den Deckel einer Schatulle, der Zeitkapsel. Darin befinden sich typische Beigaben: aktuelle Tageszeitungen, Baupläne und eine Projektdokumentation des AFB sowie ein Exemplar der zweibändigen Publikation «Die Schweizerische Landesbibliothek in Bern. Renovation und Erweiterung 1994-2001 und Einweihung am 31. Oktober 1931 (Reprint)». Wann dieser Grundsteinplatte und mit ihr die Zeitkapsel geöffnet werden wird, bleibt künftigen Generationen überlassen.
Literatur und Quellen
- Telefoninterview vom 24. September 2024 mit Horst Knaupp, Projektleiter des Amtes für Bundesbauten (AFB, ab 1999: Bundesamt für Bauten und Logistik BBL) beim Projekt «Umbau und Erweiterung» der SLB/NB 1991-2009.
- Peter E. Erismann; Rätus Luck. Das Jubiläumsjahr der Schweizerischen Landesbibliothek. In: Jahresbericht 82 (1995), S. 19-29.
- La Bibliothèque nationale va gagner 70 km de rayonnages. In: La liberté, 19. Juli 1995, S. 9.
- Un pas vers le modernisme. In: L’express, 19. Juli 1995, S. 5.
- Première pierre posée. In: L’impartial, 19. Juli 1995, S. 4.
- Sept étages souterrains de mémoire nationale. In: Le nouvelliste, 19. Juli 1995, S. 12.
- Die Landesbibliothek in Bern erhält ein Tiefmagazin. In: Thuner Tagblatt, 19. Juli 1995, S. 3.
- Tiefmagazin für die Landesbibliothek in Bern. In: NZZ, 22./23. Juli 1995, S. 14.
- Christoph Allenspach (Text); Marco Schibig (Fotos); Bundesamt für Bauten und Logistik (Hrsg.). Die Schweizerische Landesbibliothek in Bern, Bd. 1: Einweihung am 31. Oktober 1931 (Reprint); Bd. 2.: Renovation und Erweiterung 1994-2001. Baden: L. Müller, 2001.
- Monica Bilfinger. Die Schweizerische Landesbibliothek in Bern. Bern: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK, 2001.
- Christoph Allenspach et al. (Texte); Marco Schibig (Fotos). Schweizerische Nationalbibliothek. Umbau und Erweiterung 1991-2009 = Bibliothèque nationale suisse. Transformation et extension 1991-2009 = Biblioteca nazionale svizzera. Trasformazione e ampliamento 1991-2009 = Biblioteca naziunala svizra. Transfurmaziun ed engrondiment 1991-2009. Bern: Bundesamt für Bauten und Logistik BBL, 2009.
Letzte Änderung 03.12.2024
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