Hermann Hesse in neuem Licht

Hermann Hesses Werk erfreut sich heute ungebrochener Beliebtheit und hat nichts an Aktualität verloren, wird aber von der Forschung vernachlässigt. Ein neues Handbuch zeigt neue Perspektiven auf Leben und Werk.

Von Benedikt Tremp

Hermann Hesses Zeit in Bern (1912–1919) war von Krisen und Krankheiten geprägt – und war doch literarisch sehr ertragreich. Im März 1914, kurz nachdem sein jüngster Sohn Martin an einer Hirnhautentzündung erkrankt war, erschien «Roßhalde» bei S. Fischer, gefolgt von den «Drei Geschichten aus dem Leben Knulps» (1915) sowie dem «Demian»-Roman (1919), den der deutsch-schweizerische Dichter schon zwei Jahre zuvor binnen weniger Wochen zu Papier gebracht hatte.

Kinderseele
Hermann Hesses Herausgeberschrift «Alemannenbuch» mit dem Prosastück «Kinderseele», dazu das förmliche Rundschreiben, mit dem er zur Mitarbeit aufrief und das auch auf Carl Spittelers Schreibtisch landete. (Foto: Simon Schmid, NB)

Ebenfalls 1919 veröffentlichte der Berner Seldwyla Verlag die von Hesse organisierte Anthologie «Alemannenbuch», für die er namhafte Berufskollegen gewinnen konnte und zu der er selbst vier Texte beitrug. Längst hatte sich da der Dichter Hesse auch als Herausgeber erbaulicher Literatur in Zeiten eines vom Krieg ausgezehrten deutschen Buchmarkts einen Namen gemacht: Von Bern aus arbeitete Hesse für die deutsche Kriegsgefangenenfürsorge und belieferte Gefangenenbibliotheken mit Lesestoff, für den er unermüdlich Autoren, Verlage und potenzielle Geldgeber anschrieb. Eine entsprechende briefliche Anfrage erreichte im Februar 1919 auch den späteren Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler, der jedoch der Bitte um Mitarbeit nicht nachkommen konnte.

Unter Hesses eigenen Beiträgen für das «Alemannenbuch» findet sich die Erzählung «Kinderseele», die er 1918 verfasst hatte. Möglicherweise unter dem Eindruck des Todes seines Vaters zwei Jahre zuvor verarbeitet der Dichter darin das Thema der Kindheit und deren Erinnerung. Beschrieben wird aus kindlicher Perspektive ein klassischer Vater-Sohn-Konflikt, der sich an einer Kleinigkeit entzündet: Der elfjährige Junge dringt in das verbotene «Reich des Vaters», dessen Arbeitszimmer, ein und nascht heimlich von Feigen, die er darin entdeckt. Das Vergehen löst Angst- und Schuldgefühle in ihm aus, gepaart mit intensiver, religiös überhöhter Selbst- und Weltverachtung. Und zieht unausweichlich die Strafe der allmächtigen Vater-Figur, Hausarrest in der Dachkammer, nach sich.

Obschon sich «Kinderseele» mit einem bei Hesse häufig wiederkehrenden Thema – dem Generationenkonflikt – auseinandersetzt, das zudem in höchstem Masse zeitlos ist, wurde die Erzählung in der Forschung bislang nur stiefmütterlich behandelt. Damit aber teilt sie das Schicksal von Hesses Werk insgesamt: So ausgesprochen aktuell und beim Lesepublikum beliebt seine Gedichte, Romane oder Märchen auch heute noch sind, so wenig Wertschätzung erfahren sie vonseiten der Literaturwissenschaft und Kritik, so vernachlässigt sind sie in Schule und Studium. Zwar wurde schon reichlich über Hesse geschrieben, seine Texte ertragreich kommentiert – intensivere Auseinandersetzungen mit dem Leben und Schaffen des Literaturnobelpreisträgers von 1946 bleiben jedoch rar gesät.

Diesem Missverhältnis Gegensteuer zu geben, ist das vorrangige Anliegen des «Hermann Hesse Handbuchs», das in diesen Tagen bei J.B. Metzler erscheint. Das von Andrea Bartl (Universität Bamberg) und Alexander Honold (Universität Basel) herausgegebene Grundlagenwerk rollt den gesamten Kenntnisstand zum Autor in prägnanter Form neu aus: In fast siebzig Einzeldarstellungen zeichnen ausgewiesene Hesse-Kennerinnen und -Kenner die Lebensstationen des Dichters nach, erschliessen sie textnahe die Erzählwerke und Lyrik, ordnen sein Denken und Wirken in übergeordnete ästhetische Kontexte ein, arbeiten intermediale Bezüge heraus oder beleuchten Hesses eindrückliche Wirkungsgeschichte. Nicht zu kurz kommen dabei auch seine Zeit in Bern oder ebenda entstandene Texte wie «Kinderseele». Einzelne Stichwortartikel befassen sich mit dem Motiv des Alkohols in seinen Texten, untersuchen sie im Spiegel neuerer Raumtheorien oder im Kontext interkultureller Literaturwissenschaft und Postkolonialismus. Damit setzt das Handbuch frische Impulse und zeigt spannende neue Zugänge zu Hermann Hesse auf.

Letzte Änderung 13.05.2025

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