Von der Rolle der Literatur in Staatsaffären (oder umgekehrt)

Der in der Westschweiz manchmal als «zu politisch» eingestufte Daniel de Roulet steht in der Tradition von Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Niklaus Meienberg. Letzteren lässt er in einer fiktiven Erzählung auferstehen, um historische Fakten zu untersuchen.

Von Vincent Yersin

Es geschieht nicht häufig, dass ein Schriftsteller, dessen Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrt wird, zur Romanfigur eines anderen solchen Schriftstellers wird. Genau das passiert jedoch im Roman «Staatsräson» («L’Oiselier», 2021), in dem Daniel de Roulet den dunklen Seiten der Gründung des Kantons Jura auf den Grund geht. In dieser Geschichte über grausame und mysteriöse Todesfälle aus einer Zeit, die man die «bleiernen Jahre» der Schweiz nennen könnte, wird Meienberg zu Roulets Ermittler. Auf ihn zurückzugreifen erlaube es ihm, «den Jura-Konflikt verständlicher zu machen, zumal die Protagonisten alle schweigen und ihre Geheimnisse mit ins Grab zu nehmen gedenken». Das unbequeme kleine Buch stellt die glatte, makellose Seite der Schweiz und ihres Staatsapparats in Frage, denn hier werde «die soziale Ordnung weniger mit nackter Gewalt als mit Schweigen aufrechterhalten. Geschäftsgeheimnis, Staatsgeheimnis. Und deshalb tut sich die Schweizer Literatur mit der Politik so schwer», so Roulet in der Einleitung zu Staatsräson.

L’Oiselier
Aus dem Archiv Daniel de Roulet: Typoskripte, Drehbuch und weitere Entwürfe zu «Staatsräson» (Foto: Simon Schmid, NB)

Das Archiv von Daniel de Roulet dokumentiert die Entstehung des Werks über rund fünfzehn Jahre, von den handschriftlichen Heftentwürfen und siebzehn verschiedenen Fassungen bis zum endgültigen Text. Das Besondere daran ist, dass Roulet den Text dem Filmemacher Werner Schweizer anvertraute, mit der Idee, den Roman erst nach seiner Verfilmung zu veröffentlichen – «eine Umkehrung der gewohnten Vorgehensweise, bei der der Film eine Adaption des Buches ist». Das Projekt eines Spielfilms scheiterte jedoch an fehlenden Bundesmitteln; aus dem Text wurde ein Buch, Werner Schweizer drehte einen Dokumentarfilm mit dem Titel «Operation silence – die Affäre Flükiger», der gegenwärtig in den Kinos zu sehen ist.

Für Meienberg als literarischen Wegbereiter interessierte sich Roulet nicht erst in den letzten Jahren. Schon lange bevor sich Roulet der Literatur zuwandte, kam es in Zürich zu gelegentlichen Treffen mit Meienberg, wo die beiden sich über «die gleichen Ideen» austauschten. In einem Meienberg gewidmeten Kapitel im Essayband «Portraits clandestins» (2023) schreibt Roulet über ihn: «Er wühlt, dokumentiert, immer auf der Suche nach der Wahrheit, besonders wenn sie vielschichtig ist.» Die Gattung der literarischen Reportage, wie Meienberg sie praktiziere, sei «die edelste Form des Journalismus» und die «notwendigste», weil sie heilsam sei für eine Schweizer Literatur, die sich gemäss Roulet besonders in der Romandie zu oft dem Intimen und Gemütszuständen zuwende.

Roulet und Meienberg sind beide zwischen der deutschen und französischen Sprache hin- und hergependelt; 1998 hat Roulet ein Nachwort zur französischsprachigen Ausgabe von Meienbergs «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» verfasst. Beide haben Texte über den Fichenskandal verfasst, worin sie vor allem die unerhörte Inkompetenz und Lächerlichkeit der Überwachungsbeamten hervorheben. Die beiden Autoren sind geeint im unermüdlichen Bestreben, nationale Erzählungen der Schweiz anzufechten, und in der Überzeugung, dass es «armselig ist, wenn wir das allein den Nationalisten überlassen». In Staatsräson wie auch in vielen anderen Texten fordert Daniel de Roulet eine Literatur, die wirksam danach forscht, «was es an Fiktion braucht, um die Wirklichkeit zu enthüllen». Und um dies zu erreichen, bedarf es der Worte, welche die Werkzeuge, ja gar die Waffen des Schriftstellers seien oder wie Niklaus Meienberg einst Bundesrat Kurt Furgler zitierte: «Sie met dä gewaaltige Chraft Ehres Woortes».

Daniel de Roulet, geboren in Genf, feierte Anfang Februar 2024 seinen 80. Geburtstag feierte, hat Architektur studiert und war lange als Informatiker tätig. Sein Schaffen umfasst über dreissig Werke: Romane, Essays und autobiografische Texte. Sein letztes Buch «Le bonnet rouge» erschien 2023 im Verlag Héros-Limite und kürzlich unter dem Titel «Die rote Mütze» auf Deutsch.

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Letzte Änderung 26.02.2024

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