Mitglied 11’160. Georg Kaiser und die «Reichsschrifttums-kammer»

Trotz öffentlicher Verbannung und gegenseitiger Ablehnung erhielt der Dramatiker Georg Kaiser (1878–1945) einen Mitgliedsausweis der «Reichsschrifttumskammer».

Von Moritz Wagner

«Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen». Was Brecht den geflohenen Arbeiter Kalle in seinen «Flüchtlingsgesprächen» mit sarkastischem Unterton resümieren lässt, ist die grundstürzende Erfahrung, dass der Pass in Zeiten der Verfolgung und des Krieges eine existentielle Dimension erlangt, gegen die alle übrigen Eigenschaften des Menschen nachrangig erscheinen. Reisepass, Flüchtlingsausweis oder Affidavit bilden angesichts der darin dokumentierten Staatenwechsel, Visa oder Internierungen das manifesteste Zeugnis der biografischen Zäsuren ihrer Träger. Sie sind mithin paradigmatische Lebensdokumente in Nachlässen exilierter Autorinnen und Autoren. Umso eigentümlicher mutet deshalb der Mitgliedsausweis der «Reichsschrifttumskammer» an, der sich im Nachlass des Dramatikers Georg Kaiser befindet. 

Reichsschrifttumskammer
Georg Kaiser, Ausweis Reichsschrifttumskammer 1936 (Foto: NB, Simon Schmid)

Noch 1938 bestätigt das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda: «Georg Kaiser ist nicht Emigrant, sondern […] wird als Mitglied 11’160 meiner Kammer geführt.» Die Mitgliedschaft irritiert, weil auch Kaiser, der wegen seiner pazifistischen Stücke bereits zur Zeit der Weimarer Republik faschistischen Anfeindungen ausgesetzt gewesen war und als «verjudet» galt, 1933 jäh aus dem kulturellen Leben hinauskatapultiert wurde. Nachdem sein im Februar uraufgeführtes Stück «Der Silbersee» mit Musik von Kurt Weill im «Völkischen Beobachter» als ‹kulturbolschewistische› Propaganda diffamiert und anschliessend abgesetzt worden war, folgten im Mai der Ausschluss aus der Preussischen Akademie der Künste sowie die Verbrennung seiner Bücher in Berlin und seiner Heimatstadt Magdeburg. Kaiser, der meistgespielte Bühnenautor der 1920er-Jahre, wurde mit einem konsequenten Bühnen- und Publikationsverbot belegt. Seine Werke figurierten auf der «Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums». 

Der Ausweis erscheint somit als doppeltes Rätsel. Immerhin war Kaisers ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus verbürgt. So hatte der Dichter pamphletistische antifaschistische Flugblätter verteilen lassen und stand in Kontakt zu Widerstandskreisen. Möglich, dass Kaiser, der in den Jahren seiner inneren Emigration in eine finanzielle Notlage geriet, in der Mitgliedschaft die letzte Chance auf einen Wiedereinstieg in den Kulturbetrieb erblickte. Ebenso denkbar, sie als Versuch des Regimes zu deuten, den Autor trotz öffentlicher Verbannung indirekt doch noch für die Zwecke der gleichgeschalteten NS-Kulturpolitik einzuspannen. Goebbels und Göring hätten Kaiser jedenfalls allzu gerne für sich gewonnen. 

Weit wahrscheinlicher ist indes, dass die Mitgliedschaft schlicht einer gesetzlichen Pflicht entsprach, die den Zweck der politischen Kontrolle erfüllte. So stellte man 1938 befriedigt fest: «Das gesamte Schrifttum Kaiser’s ist seit Jahr und Tag verschwunden». So gesehen bildet Kaisers Ausweis eine Abart des edlen Passes, als zynischer ‹Ausweis› einer erzwungenen künstlerischen Immobilität und Verbannung von der kulturellen Bildfläche. Nach Jahren der Zurückgezogenheit ging Kaiser, einer Hausdurchsuchung durch die Gestapo zuvorkommend, im Sommer 1938 ins Exil: «Mir blieb in Grünheide nur noch die Wahl: Hungertod oder Selbstmord. Aber ich wollte mein Werk nicht im Stich lassen und reiste ab.» Über Amsterdam gelangte er auf Einladung des Dramatikers Caesar von Arx in die Schweiz, wo bis zu seinem Tod 1945 in Ascona noch neun Dramen entstehen sollten. 

Georg Kaiser (1878–1945) war ein deutscher Dramatiker, der 1938 ins Exil ging. Sein Teilnachlass im SLA umfasst die Dokumente der Schweizer Exilzeit. Der eigentliche Nachlass befindet sich im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin.

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Letzte Änderung 07.08.2023

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