Birgit Kempker ist eine unkonventionelle Stimme der Gegenwartsliteratur. Ihr Film-Essay «Repère» spielt mit der Unterscheidung zwischen Oberflächlichkeit und Tiefgang.
Von Isabelle Balmer
Am Anfang ist eine Kamera und wackelt. Im Dunkeln tastet sie sich durch ein Stiegenhaus und erfasst irritierende Lichtpunkte, bevor sie einen Haufen Plunder in den Fokus nimmt. Später fährt ein Zug vorbei, Landstriche verwischen vor dem Fenster und Textfragmente erscheinen kurz: «in der tiefe ist alles unfall», erscheint in konsequenter Kleinschreibung auf dem Bildschirm, bevor die Schrift wieder verblasst, «treib gut».
Von diesen und weiteren Szenen des Flüchtigen handelt Birgit Kempkers Film-Essay «Repère», den die Autorin, Künstlerin und Dozentin zusammen mit ihrem Sohn Anatol 2009 realisiert hat. «Repère» ist eine filmische Erinnerung an das Gesuchte. […] Ein inständiger Essay über die Art, wie sich Bilder selber suchen und bilden, wackeln, rutschen, sich verschieben», so ihr langjähriger Freund und Verleger Urs Engeler auf seiner Website. Der Begriff «Essay» ist dabei im Wortsinn zu verstehen und steht programmatisch für das Schaffen der mehrfachbegabten Autorin. Sie nähert sich dem Gesuchten über den «Versuch» an und fahndet nach experimentellen Formen, in denen es möglich wird, Sprache, Klang, (bewegte) Bilder und Performances produktive Allianzen eingehen zu lassen.
Einer solchen Form entspricht jedes der im Engeler Verlag herausgegebenen «Repère-Originalbücher». Anstatt den Trends des absatzorientierten, zeitgenössischen Buchmarkts zu folgen oder auf die Möglichkeiten serieller Produktion zurückzugreifen, stellen sich die kempkerschen Originalbücher gegen die Mechanismen der Massentauglichkeit. Jedes Buch ist ein Unikat, jedes ist verschieden und jedes kostet stattliche 79 CHF.
Gemacht sind die Bücher aus dem entkernten Einband eines antiquarischen Buchs, den Birgit Kempker künstlerisch bearbeitet und handschriftlich mit dem Titel «Repère» versehen hat. Darunter verbirgt sich eine DVD-Hülle in der Ästhetik einer evolutionären Ursuppe. Ein chimärenartiger Fisch schwimmt auf der Frontseite und ein Bullauge verschwimmt im Hintergrund neben farbigen Schlieren. In dieser doppelten Hülle liegt dann der eigentliche Datenträger, eine DVD mit überdimensionierten Glubschaugen, die einem entgegenstarren. Die entfremdete, antiquarische Buchhülle trifft auf den jüngeren, filmischen Inhalt und stellt in diesem kuriosen Zusammenschluss sowohl die eigene Gemachtheit als auch ein ästhetisches Konzept aus.
Was böse Zungen Birgit Kempkers «Repère» als Willkür, Kindlichkeit oder Eklektizismus ankreiden könnten, dröselt sich in ein Gegensatzpaar zwischen oberflächlicher Künstlichkeit und ästhetischem Tiefgang auf; ein pointiertes Over-the-Top. Die intensive konzeptionelle Arbeit hinter der Linse vergegenwärtigen zudem die im Archiv überlieferten Regiebücher, in denen die Einzelszenen des Films bis auf die Sekunde genau abgeleitet werden. Blickt man dort noch etwas tiefer hinein, finden sich in den Zwischenräumen der vielen Zahlentabellen immer wieder witzvolle Miniaturen. Mit ihnen bricht Birgit Kempker die Härte ihrer Werkskizze auf und lässt einen gestalterischen Prozess sichtbar werden, der sich selbst kommentiert, zuweilen ironisiert und schliesslich so wie «Repère» einen ungeahnten Tiefgang entwickelt.
Birgit Kempker lebt in Basel und wurde 1957 in Wuppertal (DE) geboren. Sie experimentiert mit allen Mitteln der Sprache – Performance, Collage, Hörspiel, Theater, Installation, Daumenkino, Buch – und unterrichtet Studierende der Kunst und Literatur. Zuletzt erschien im Engeler Verlag ihr Buch «Geist der Peinlichkeit» (2022).
Mehr zu diesem Thema
Ein Buch wider die Mechanismen der Massentauglichkeit (PDF, 590 kB, 25.01.2023)Der Bund, Dienstag, 24. Januar 2023
Letzte Änderung 25.01.2023