Ein Buch für alle

Mit der «Aktion Gratisbuch» wollten Theo Ruff und Peter K. Wehrli Anfang der 70er-Jahre die Literatur demokratisieren – die Resonanz darauf war riesig.

Von Benedikt Koller

Was nichts kostet, ist wertlos oder Werbung – so dachten in den 1970er Jahren viele Menschen in der Schweiz. Den in den Boom-Jahren Geborenen war lange genug vermittelt worden, dass alles Gute seinen Preis hat: die Milch, das Eigenheim – und auch die Literatur.

Umso grösser war die Verblüffung, als das Gratisbuch («dieses buch ist gratis. Texte zeitgenössischer Schweizer Schriftsteller») erschien. Fast drei Jahre lang hatten die Herausgeber Theo Ruff und Peter K. Wehrli die Anthologie vorbereitet, ehe sie 1971 in einer Auflage von 40 000 Exemplaren vorlag – und gratis verteilt wurde: in den Städten und Dörfern, auf Strassen und Plätzen, in Kneipen und Zügen. Das Echo auf die höchst ungewöhnliche Buchpublikation und die Verteilaktionen war riesig. Nebst den Schweizer Medien berichteten auch diverse Zeitungen im Ausland darüber.

Begonnen hatte die «Aktion Gratisbuch» 1968 mit einer Idee des jungen Studenten Theo Ruff: Er wollte die Literatur über das gebildete Milieu hinaus breiteren sozialen Schichten zugänglich machen – und sie damit demokratisieren. Mit Plakaten bat er um die Einsendung von Texten und Lyrik «junger Schweizer Schreiber» für ein «Gratis-Spezial-Buch». Der Kulturredaktor und Schriftsteller Peter K. Wehrli war von der Annonce so begeistert, dass er sich alsbald bei Ruff meldete. Gemeinsam trieben sie das Gratisbuch voran, das den Warencharakter des Buches unterlaufen sollte.

Gratisbuch
Ein Who’s who der Schweizer Literatur: Das Gratisbuch sei von einem anonymen Gönner ermöglicht worden, liessen die Herausgeber 1971 verlauten. Mittlerweile ist klar, wer es war. (Foto: NB, Simon Schmid)

Auf die meisten der über 300 eingegangenen Texte notierten sie freilich «WSL» – Weltschmerzlyrik. Weil damit kein Buch zu machen war, schrieben Ruff und Wehrli zusätzlich von ihnen favorisierte Autor*innen an. Und siehe da, von den 50 Angeschriebenen sagten 49 zu. Die Liste der Beitragenden liest sich wie das Who’s who der damals progressiven Schweizer Literaturszene: Peter Bichsel, Erika Burkart, Max Frisch, Adolf Muschg, Paul Nizon… Nur Friedrich Dürrenmatt liess bis zum Redaktionsschluss nichts von sich hören. So empfahlen die Herausgeber den Lesenden, die leer gebliebenen Dürrenmatt-Seiten als Notizpapier zu verwenden.

Im Vorwort steht auch, wer das Gratisbuch bezahlt hat: ein grosszügiger junger Geldgeber, der ungenannt bleiben wolle. Er habe mit seinem Erbe lieber ein Buch für alle finanziert als «seiner Freundin einen Alfa Romeo Super Giulia». Dass es sich beim Mäzen um Theo Ruff himself handelte, verschwieg dieser ebenso grosszügig. Viele Zeitgenossen sahen im Gratisbuch eine Replik auf das reaktionäre Zivilverteidigungsbuch, das 1969 vom Justiz- und Polizeidepartement – ebenfalls gratis – in sämtliche Schweizer Haushalte verschickt worden war. Der rosarote Umschlag und die ikonische Armbrust auf dem Cover dürften diese Auffassung ebenso verstärkt haben wie die Texte, mit denen die in der Anthologie versammelten Autor*innen Zeugnis ablegten von ihrer Schweiz: einer selbstkritischen, weltoffenen, vielstimmigen Schweiz.

Eines der vielen Fundstücke in der «Sammlung Gratisbuch» ist der Fragebogen, der dem schmalen Band beigelegt war. Auf diesem konnten die Lesenden etwa angeben, welche Beiträge sie besonders beeindruckten und was sie von moderner Literatur erwarteten.

Als Theo Ruff mit seiner Erbschaft das Gratisbuch ermöglichte, verschwand er im Interesse des Buches hinter der Sache. Dank der Schenkung der «Sammlung Gratisbuch» ans SLA ist er wieder aufgetaucht. Nun ist es die Sache der Öffentlichkeit, die Fragebogen für eine literatursoziologische Analyse der frühen 70er-Jahre auszuwerten.

Theo Ruff studierte in Zürich Germanistik und Kunstgeschichte, als er mit Peter K. Wehrli die «Aktion Gratisbuch» lancierte. «dieses buch ist gratis.» erschien 1971 in einer Auflage von 40 000 Exemplaren, 1973 folgte eine um elf Beiträge ergänzte zweite Auflage (4000 Ex.). Später gründete Ruff den Regenbogen-Verlag, in dem u.a. die deutschsprachige Ausgabe von Marcel Duchamps Schriften erschien.

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Letzte Änderung 19.04.2023

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