Kuno Raeber, einer der eigenwilligsten Schriftsteller unseres Landes, wäre am 20. Mai 100 Jahre alt geworden. Eine Würdigung.
Von Benedikt Tremp
Kuno Raeber war ein akribisch arbeitender und detailverliebter Schriftsteller, ein Feinschmied des schönen, formvollendeten Ausdrucks. Schreiben, sowohl Lyrik als auch Prosa, bedeutete für ihn «unermüdlich von neuem anfangen, jede Seite so lang um und um schreiben, bis sie [...] unangreifbar ist». Die Erzeugnisse dieses aufwendigen Prozesses sind heute in Raebers Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv zu entdecken: Mit ersten Entwürfen seiner insgesamt vier Romane füllte der Dichter jeweils mehrere engbeschriebene Notizhefte, danach übertrug er das Geschriebene mehrfach komplett und in verschiedenen Varianten handschriftlich auf Einzelblätter, bevor er die jahrelange Arbeit mit einer Reinschrift auf Schreibmaschine abschloss.
Aufgewachsen in Luzern in stark katholisch geprägten Familienverhältnissen, hegte Raeber bereits als Schüler den Wunsch, die Dichtung zu seiner Lebensaufgabe zu machen. Nach einem mit Promotion abgeschlossenen Geschichts- und Philosophiestudium an der Universität Basel übersiedelte er 1958 nach München, wo er bis an sein Lebensende als freier Schriftsteller tätig war und daneben unter anderem für den Rundfunk arbeitete.
Ein kurzes Intermezzo als Novize im Jesuitenorden hatte Raeber zuvor noch zum Bruch mit der Kirche geführt. Diese schwierige, in eine Lebenskrise mündende Trennung war wegweisend für seine Poetik: Der reiche Mythen- und Bilderschatz des Glaubens, den Raeber daraus mitnahm, sollte fortan in seinen Dichtungen neu aufblühen. Wiederholte Rom-Aufenthalte befeuerten zudem seine lebenslange Faszination für das Kulturgedächtnis der Antike, das gleichermassen in seinen Texten in allen Farben erstrahlt.
Mit Lyrikbänden wie «Die verwandelten Schiffe» (1957) hob Raebers Schaffen an und gelang ihm der Sprung in die Mitte des Literaturbetriebs. Erst als er sich, inspiriert durch Borges, verstärkt der Prosa zuwandte, begann sein Weg ins literarische Aussenseitertum. Raebers ganz eigener Weg, ausgefeilte lyrische Ausdrucks- und Stilmittel in seine Erzählformen einzubinden, befremdete die Kritik nachhaltig. Seine so präzise und gewissenhaft konzipierten Romane, darunter der in New York entworfene «Alexius unter der Treppe oder Geständnisse vor einer Katze» (1973) und «Das Ei» (1981), fanden allesamt nur wenig Anklang, wurden als zu prätentiös und unzugänglich abqualifiziert.
Doch Raeber liess sich nie für den Geschmack der literarischen Öffentlichkeit verbiegen. «Steckköpfig» punkto seiner Arbeit, so erinnerte sich sein Bruder Thomas, sei der eigenbrötlerische Dichter schon zur Schulzeit gewesen. Seiner festen Überzeugung, der Künstler solle «seine Arbeit um ihrer selbst willen» tun, ordnete er alles unter.
Wenn auch gewiss keine einfach zu konsumierende Literatur, sind Kuno Raebers Texte doch von einer kompositorischen und ästhetischen Kunstfertigkeit und Eindringlichkeit, die faszinieren und wenig Vergleichbares kennen. Grund genug, das Schaffen dieses Sprachakribikers wie auch dessen spektakuläre Spuren im Literaturarchiv neu- oder wiederzuentdecken – und wenn nicht einen seiner extravaganten Romane, so vielleicht seinen letzten Gedichtband «Abgewandt Zugewandt» von 1985, in dem Raeber, zur Überraschung vieler, ein erstes und letztes Mal in Luzerner Mundart dichtete.
Kuno Raeber (1922–1992) wurde in Klingnau (AG) geboren. Sein Studium der Geschichte schloss er 1950 mit einer Dissertation zu Sebastian Francks «Geschichtsbibel» ab. 1951 war er Leiter der Schweizer Schule in Rom, von 1952 bis 1955 Assistent für Geschichte am Tübinger Leibniz-Kolleg. Ab 1958 lebte er als freier Schriftsteller in München, wo er Ingeborg Bachmann kennenlernte. Neben Gedichtbänden wie «Die verwandelten Schiffe» (1957) und Romanen wie «Die Lügner sind ehrlich» (1960) und «Sacco di Roma» (1989) verfasste er auch Hörspiele und dramatische Texte. Aus Anlass seines hundertsten Geburtstags erscheint in diesem Monat bei Chronos ein Band zu seinem Romanwerk.
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Der Sprachakribiker, der zeitlebens «steckköpfig» blieb (PDF, 585 kB, 24.05.2022)Der Bund, Mittwoch, 18. Mai 2022
Letzte Änderung 24.05.2022