Was bedeutet der Karneval der Berühmtheiten?

In Pierre Imhaslys Nachlass findet sich eine Zeichnung mit Gesichtern von Personen aus der Kulturgeschichte – und alle tragen goldene Schnäbel.

Von Salomé Näf

Pierre Imhasly war wohl einer der eigenartigsten Dichter der Schweiz, der sich am Rand des Betriebs bewegte und dabei über Jahrzehnte ein eigenwilliges Werk schuf. Heute noch mangelt es ihm an Anerkennung und Sichtbarkeit. Hingegen konnte er sich zu seinen Lebzeiten auf die beständige Unterstützung seiner Vertrauten verlassen, die seine literarische Karriere förderten, verteidigten und finanzierten. Im Rahmen seiner Tätigkeiten als Schriftsteller und Übersetzer baute er sich außerdem ein Netzwerk von Freundschaften auf, die eine große Rolle auf seinem Weg als Autor spielten. So findet man in seiner Korrespondenz beispielsweise den Maler Jean-Pierre Formica oder den Grafikdesigner Pongo Zimmermann. 

Aufgetaucht Pierre Imhasly
Das Bild «Ornithologen Gesellschaft» von Alex Sadkowsky gibt Aufschluss über die Einflüsse in Pierre Imhaslys Werk (Foto: NB, Simon Schmid)

Zu diesem Kreis von mehr oder weniger bekannten Kunstschaffenden gehört auch der Künstler Alex Sadkowsky, der mit Imhasly viel über das Schreiben und die Kunst diskutierte und die nicht zustande gekommene Ausgabe von Imhaslys «Rhone Saga» in der Edition Erpf illustrieren sollte. Ausserdem ist Sadkowsky selbst ein unter anderem für das monumentale Werk «Die Chinesische Wespe» bekannter Schweizer Autor. In Imhaslys Nachlass ist neben Sadkowskys Briefen ein riesiges von ihm gezeichnetes Bild voller karikierter Gesichter aufgetaucht. Die betreffende «Zeichnung» – eine Offsetlithografie mit dem Titel «Ornithologen Gesellschaft» – lag gerollt in einer Bananenschachtel und wurde ursprünglich mit dem Rest von Imhaslys Plakaten geordnet. Bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass sie keine Werbung für eine Veranstaltung oder ein Werk darstellt, sondern etwas anderes. Das Bild enthält zahlreiche Reihen von Gesichtern, die mit einem goldenen Schnabel anstatt der Nase versehen sind. 

Die Komposition sieht ein bisschen wie ein genealogischer Stammbaum oder eine Art von Pantheon der bedeutendsten Figuren an Imhaslys künstlerischem Horizont in karikaturistischem Stil aus. Zum Beispiel entdeckt man in diesem Bild Schriftsteller aus der Schweiz wie Max Frisch, Ludwig Hohl oder Hugo Loetscher, aus Deutschland wie Goethe oder Heinrich Heine und aus anderen Ländern wie James Joyce oder Ingeborg Bachmann. Neben der Schriftstellerei wird auch die Physik mit Albert Einstein und Isaac Newton, die Bildende Kunst mit Vincent van Gogh und Frida Kahlo oder die Architektur mit Le Corbusier und Frank Lloyd Wright repräsentiert. Manche dieser Figuren werden mit spezifischen Attributen inszeniert: Pierre Imhasly selbst wird mit einem Stier und dem Matterhorn als Referenzen zu seinem Werk dargestellt. Das Bild in seiner Gesamtheit gibt einen Eindruck von menschlicher Überfülle sowie versteckten Anspielungen und wirkt wie ein von Alex Sadkowsky im Jahre 1983 entworfenes karnevaleskes Panorama von allen Personen, die für Imhaslys Schreiben oder Leben auf irgendeine Weise wichtig waren.

Obwohl diese Zeichnung auf den ersten Blick von keinem ernsten wissenschaftlichen Interesse zu sein scheint, hebt sie trotzdem einen interessanten Aspekt hervor: die Wichtigkeit des Netzwerkes und der Einflüsse in der künstlerischen Tätigkeit Imhaslys. In seiner Definition des literarischen Feldes verdeutlicht Bourdieu die Wirkung von sozialem und symbolischem Kapital, insbesondere die Vernetzung und Sichtbarkeit. Deshalb wären folgende Fragen in diesem Kontext spannend: Wer wird auf diesem Bild dargestellt und wer nicht? Was sind die Verbindungen zwischen diesen Personen, welchen Einfluss haben sie aufeinander und in welchem Zusammenhang mit Imhasly und seinem Werk werden sie erwähnt? Damit könnte man auch einen besseren Überblick über die künstlerische Lage, Netzwerke und gegenseitige Einflüsse in der Schweiz zu dieser Zeit geben.

Pierre Imhasly wurde 1939 in Visp geboren. Der Walliser war Verfasser von Prosa und Gedichten und Übersetzer aus dem Französischen, u.a. von Maurice Chappaz. Sein Lebenswerk ist die im Stroemfeld-Verlag erschienene «Rhone Saga» (1996), an der er zwölf Jahre lang geschrieben hat. Er ist 2017 in Visp gestorben.

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Letzte Änderung 02.03.2022

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