Ein literarisch bedeutsamer Postsack

Ein Sack der brasilianischen Post alimentiert Hugo Loetschers Bibliothek. Die Entdeckung Brasiliens verdankt er einem Diktator und einem Fernsehredaktor.

Von Corinna Jäger-Trees

Im Jahr 1965 bereiste Loetscher erstmals Portugal. Weitere Aufenthalte wurden ihm allerdings wegen eines kritischen Films über den Diktator Salazar verunmöglicht. Daraufhin begann Loetscher, die Welt auf den Spuren der Portugiesen zu erkunden. Im selben Jahr noch führte ihn eine erste Reise nach Brasilien – der Einstieg in diese Fremde bot mit dem Karnevalserlebnis von Rio Musik, Körperlichkeit, Entgrenzung: «Von Taumel zu Taumel und von einem Tag in den andern hinein.»

Postsack
«Was habe ich Päckchen auf die Post geschleppt!», Hugo Loetschers brasilianischer Bücherpostsack
© Foto: Simon Schmid, NB

Insgesamt war Loetscher zwischen 1965 und 1992 dreizehnmal in Brasilien. Dass in den 1960er-Jahren Südamerika in den europäischen Medien noch ein vernachlässigtes Thema war, kam ihm entgegen: Er verfasste Reiseberichte und Artikel für die «Weltwoche» und die Zeitschrift Du, später für das «Tages-Anzeiger Magazin» und die «NZZ». Loetschers Aneignung von Fremde erfolgte auch über das Lesen: «Welche Lücke sich auftat, merkte ich an mir selbst. […] Das hiess nicht nur schauen und Gespräche führen, sondern auch lesen. Was habe ich Päckchen auf die Post geschleppt! Sollte meine Brasilienbibliothek zu einer Geschichte kommen, fände sich darin ein detailfreudiges Kapitel ‹Der Autor und die Paketpost›.»

Loetschers publizistische Arbeiten vermitteln ein äusserst differenziertes Bild Brasiliens. Erst ein Blick in seinen Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv macht auch ihre Tragweite für die literarische Gestaltung des Landes deutlich. Als Fundgrube erweisen sich die Brasilien-Artikel für das letzte Werk «War meine Zeit meine Zeit» (2009). Darin folgt man einem Ich-Erzähler, der mit der Biografie seines Autors viel gemein hat, mal in atemraubendem Tempo, mal reflektierend-verweilend thematischen und geografischen Strängen. Man wird auf Reisen rund um den Globus mitgenommen: Von Zürich aus durchstreift man diverse Länder Europas, reist nach Südamerika, insbesondere Brasilien, oder in den Mittleren und Fernen Osten bis nach Afrika. 

Ein Beispiel möge genügen: In der Reportage «Brasilia und die Gegenstadt», die 1971 im «Tages-Anzeiger Magazin» erschien, setzte sich Loetscher mit der Stadt vom Reissbrett und ihren Slums auseinander, der Satellitenstadt Nucleo Bandeirante. Steril, grosszügig, entvölkert steht chaotisch, eng, lebendig gegenüber. Dieses Konzept und die entsprechenden Bilder greift Loetscher über 35 Jahre später in «War meine Zeit meine Zeit» im Kapitel «Nie ganz dazugehören» auf – teilweise bis in einzelne Bilder und Formulierungen hinein. 

Loetschers bekannteste literarische Auseinandersetzung mit Brasilien erschien 1979 unter dem Titel «Wunderwelt. Eine brasilianische Begegnung». Darin dichtet der Ich-Erzähler einem toten Mädchen aus dem armen Nordosten schreibend eine Existenz an, die es selber nie leben durfte. Als Folie fächert er die Volkskultur auf: Die Stichwörter lauten u.a. Devotionalienverehrung, Naturmedizin und Bänkelsänger-Texte. Letztere werden in kleinen Loseblatt-Bündeln überliefert, die an Schnüren aufgehängt wurden – daher der Name: literatura de cordel. Einige solche Bündel befinden sich im Archiv Loetscher im Schweizerischen Literaturarchiv. Womöglich haben auch sie die Reise in die Schweiz in dem brasilianischen Postsack überstanden und sind in der Bibliothek dessen gelandet, der in alle Richtungen gehen wollte – denn: «Unterwegs sein, das war meine Art zu fragen».

Hugo Loetscher, geboren 1929 in Zürich und 2009 ebendort gestorben, studierte Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft und war ab 1969 als freier Schriftsteller und Publizist tätig. Seit 1965 bereiste er regelmäßig Lateinamerika, Südostasien und die USA. Sein Werk ist geprägt von der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen.

Letzte Änderung 24.06.2021

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