Als ein Mädchentraum platzte

Per la versiun rumantscha selecziunai survart a dretga EN.

Die bekannteste Erzählung von Margarita Uffer dreht sich um einen ersten Kuss, der aber alles andere als romantisch ist. Damit gewann die Autorin 1964 einen Literaturwettbewerb.

Von Annetta Ganzoni

Im Sommer 1964 lancierte das Schweizer Verlagshaus in Hinblick auf einen Band für die Reihe der «Neuen Schweizer Bibliothek» (NSB) einen Literaturwettbewerb für Kurzgeschichten und Erzählungen in rätoromanischer Sprache. Unter den 34 eingereichten Texten wurde «Igl bitsch (Der Kuss)» der Redaktorin und Sprachlehrerin Margarita Uffer Gangale für eine Auszeichnung ausgewählt. 1967 erschien die Anthologie «Prosa rumantscha – Prosa romontscha», die, neben den fünf prämierten, noch neun weitere Arbeiten enthält. Die Sammlung umfasst Kurzprosa in Ladin, Surmiran, Sutsilvan und Sursilvan und dürfte heute zu den interessanteren Überblickseditionen dieser Jahre zählen. Die ursprüngliche Absicht des Verlags, die Anthologie in einer synoptischen rätoromanisch-deutschen Fassung zu veröffentlichen, wurde nicht umgesetzt.

Anthologie Prosa rumantscha
Die Anthologie «Prosa rumantscha – Prosa romontscha» mit dem Wettbewerbsinserat, einem Verlagsbrief und der sankt-gallischen Fassung von «De Chuss» (Foto: Simon Schmid, NB)

Das Wettbewerbsinserat, die Pressekommunikation, die Publikation und die damit verbundene Korrespondenz mit dem Schweizer Verlagshaus sind im literarischen Archiv von Margarita Uffer dokumentiert. «Igl bitsch – Der Kuss» ist ihre bekannteste Erzählung geblieben. Sie wurde in weitere rätoromanische Idiome, ins Sanktgallische und Hochdeutsche, ins Französische und Rumänische übersetzt. Die hier zitierte Fassung wurde 1998 von Walter Haas für den Schweizer Auftritt an der Frankfurter Buchmesse erarbeitet.

Die Erzählung ist aus einer Innenperspektive entwickelt, in der sich Wünsche, Projektionen und Realität einer jungen Frau treffen. Die Leserschaft erfährt wenig von den äusseren Umständen des regnerischen Abends in den 1940er-Jahren, der sich in einer Industriestadt mit Tramlinien abspielt. Die junge Protagonistin versucht, sich zu einem ersten Kuss mit einem Mann durchzuringen, den sie nach einer Märchenfigur «Milutin» nennt; er spricht sie mit «Mimosa» an. Nach der Arbeit wartet sie vor der Fabrik auf den Jungen, den keine ihrer Kolleginnen anschaut. Er möchte sie küssen, aber sie lehnt ab. In ihrer Bleibe bei drei alten Frauen stellt sie sich den nächsten Abend und ihre Gefühle für den Jungen vor. In romantischer Verklärung überhöht sie den ersten Kuss, den sie nur an einem Festtag gewähren möchte, am liebsten zum Hochzeitstag. Er meint, ihre Verweigerung sei grausam, er suche sich eine andere.

Am erzählten Abend lässt er sie lange warten, da endlich entscheidet sie sich. Er führt seine Mimosa unter die Brücke, «sucht den Mund, nach dem ihn schon so lange verlangt, diesen kleinen Kindermund, den noch kein Mensch berührt hat. Und er nimmt ihn mit Gewalt.» Die einsame junge Frau kann die Lust am Küssen zwar nicht nachvollziehen, doch fühlt sie sich endlich geliebt. Auch der Zwiebelgeschmack reicht nicht aus, um sie aus ihren seligen Tagträumen aufzuwecken. Erst die bösartige Miene des Jungen lässt sie erstarren: «‹Das war angenehm!› sagt er und gibt das Kind frei, das aus einem Traum aufschreckt.» Angenehm? Durch dieses Wort realisiert sie plötzlich, dass der Mann vor ihr ganz anders ist als jener in ihren Tagträumen. Beleidigt und wütend flieht sie in Richtung ihrer traurigen Pension.

Es gehört zur Kunst dieser Erzählung, dass sie ohne grosse Worte die Stimmung und die Stellung der Frau in der Gesellschaft jener Jahre in den Blick nimmt und den Graben zwischen den romantischen Mädchenfantasien und der Realität unter dem Aspekt einer mit ironischem Augenzwinkern erwachenden Selbstbestimmung ausleuchtet.

Die rätoromanische Sprachlehrerin, Übersetzerin und Publizistin Margarita Uffer (1921–2010) hinterliess Gedichte («Damaun es sulagl», 1988), Theaterstücke und Erzählungen sowie eine umfassende Biografie ihres Mannes, des Theologen und Philologen Giuseppe Gangale (1898–1978).

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Letzte Änderung 23.12.2021

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