Für Tokios Jugend war sie Kult

Mit ihrer «Trilogie des Jumeaux» gelangte die ungarisch-schweizerische Autorin Agota Kristof in Japan zu unerwarteter Berühmtheit. Einer ihrer Romane inspirierte sogar ein Videospiel.

Von Fabien Dubosson

Die Schriftstellerin Agota Kristof war selbst erstaunt über ihren Erfolg in Japan: Fast alle ihre Werke waren auf Japanisch übersetzt worden und lösten bei den Lesern eine noch grössere Begeisterung aus als in der Schweiz oder in Frankreich. Insbesondere «Le Grand Cahier» wurde nach seiner Veröffentlichung auf Japanisch 1991 sofort zu einem Kultbuch, und zwar nicht nur zu einem «explosiven, vergänglichen Bestseller», sondern zu einem «echten zeitgenössischen Klassiker», wie ihr Übersetzer Shigeki Hori in einem Brief an die Autorin festhielt. «Sie werden [in Japan] nicht nur immer berühmter, Sie haben vor allem auch sehr begeisterte Leser. Viele von ihnen sagen, dass sie dank Ihren Romanen Aspekte ihrer eigenen Existenz entdeckten, von denen sie zuvor nichts geahnt hätten.»

Tokios Jugend
Erinnerungen an Agota Kristofs Japan-Reise 1995
© Foto: Schweizerische Nationalbibliothek, Simon Schmid

Eine Journalistin der «Japan Times» erinnert sich, dass junge Tokioter in den Clubs ein Exemplar des Romans als Talisman mit sich trugen. Die Erzählung war Gegenstand von unerwarteten Adaptionen. Sie wurde für das Radio und das Theater bearbeitet, namentlich durch den Regisseur Kunio Shimizu, der in seiner Version bestimmte Codes des traditionellen Theaters verwendete: musikalische Begleitung, Tanz, geschminkte Schauspieler. Die Trilogie war Vorbild für Autorinnen von Shôjo («weibliche» Mangas) wie Kyoko Okazaki, deren Werk eine ungeschminkte Darstellung der Situation von Jugendlichen zeigt. Aki Shimazaki, eine japanische Schriftstellerin, die im Quebec lebt und auf Französisch schreibt, unterstreicht, wie sehr sie beeindruckt war von der Trilogie und ihrer Autorin, die als Ausgewanderte eine neu gewählte Sprache zur Schreibsprache machen konnte. Am aussergewöhnlichsten ist schliesslich die Inspiration des «Grand Cahier» für ein 2006 erschienenes Videogame («Mother 3») von Shigesato Itoi, dessen Protagonisten Claus und Lucas die Namen der beiden berühmten Zwillinge tragen. Die Rezeption des Textes war offensichtlich äusserst breit und umfasste sowohl die gelehrte als auch die Popkultur. 

Das Ansehen von Agota Kristof in Japan erreichte seinen Höhepunkt zweifellos bei ihrem Besuch 1995. Zusammen mit ihrer Tochter reiste sie durch das Land und erlebte die Begeisterung ihrer «Fans» und der japanischen Medien. Das lässt sich auch an den wenigen Dokumenten von Agota Kristof erkennen, die sich im Schweizerischen Literaturarchiv befinden: ihre Fotos, die sie während der Reise aufgenommen hat, das von ihren Gastgebern geplante dichte Programm mit Vorträgen, Diskussionsrunden, Autogrammstunden und Interviews für das Radio, das öffentliche Fernsehen und die grossen Zeitungen. Die vielen Verpflichtungen liessen ihr wenig Zeit, um Japan zu erkunden, wie sie später erzählte.

Die Gründe des grossen Erfolgs mögen einerseits in den Qualitäten des Werks liegen: Shigeki Hori erkennt darin eine Verbindung zwischen einer Sprache, die in ihrer Einfachheit dem Haiku ähnelt, und einer unkonventionellen Sicht auf die Welt. Andererseits handelt die Erzählung des «Grand Cahier» von zwei Kindern, deren Verhalten sich mehr und mehr der Grausamkeit der sie umgebenden Erwachsenenwelt angleicht, im traumatischen Kontext des Zweiten Weltkriegs. Der unmittelbare Bericht über das Verdrängte trägt womöglich zur grossen Resonanz in der japanischen Rezeption bei, denn die Leserinnen und Leser von Agota Kristof sind selbst unter dem Schatten dieser zerstörerischen Jahre aufgewachsen. 

Die 1935 in Ungarn geborene Agota Kristof verliess ihre Heimat während des Aufstands 1956 und liess sich in Neuchâtel nieder. Als Arbeiterin in einer Uhrenfabrik tätig, verfasste sie ihre Werke auf Französisch. Bekannt wurde sie insbesondere mit ihrer «Trilogie des Jumeaux» («Das grosse Heft», «Der Beweis» und «Die dritte Lüge»). Sie starb 2011 in Neuchâtel.

Letzte Änderung 21.07.2021

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