Die verborgenen Seiten der unbekannten Dichterin und Prosaautorin Edvige Livello.
Von Daniele Cuffaro
Edvige Livello, 1901 in Ilanz geboren und 1999 in Lugano verstorben, studierte in Mailand und Zürich Persönlichkeitspsychologie und Grafologie. Als erste Frau im Kanton Tessin war sie beruflich als Psychologin tätig, und ihre Kompetenzen führten zu Kooperationen mit Forschungsautoritäten der Künstler- wie auch der Häftlingspsychologie. Es lässt sich nachvollziehen, dass Livellos Arbeiten zu diesen Themen unterschwellig auch ihre literarische Aktivität beeinflusst haben.
Ihre Manuskripte vertraute Livello der Frauenforscherin Franca Cleis an, von der sie als scharfsinnige Wissenschaftlerin geschätzt wurde und die den grossen Teil ihres Werks verlegte. In Livellos Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv finden sich neben Hörspielen und Dialekterzählungen auch Witze und Tonkassetten mit Tangos, Walzern und Mazurken.
Ein Album mit venezianischem Ledereinband zeigt Fotografien und Dokumentationsmaterialien zum Lawinenwinter 1951 in Airolo, wo Livello damals mit ihren Eltern lebte, und einen offenen Geist mit Blick für realistische Details. Literarische Unsterblichkeit erlangte diese Naturkatastrophe im erzählerischen Debüt L’anno della valanga (1965) von Giovanni Orelli. Der Tessiner Literat kannte Edvige Livello und besprach verschiedentlich ihre literarischen Produktionen. Sein Bedauern darüber, diese Autorin erst nach der Drucklegung seiner Anthologie zur italienischsprachigen Schweizer Literatur, Svizzera italiana (1986), gelesen zu haben, versuchte er mit anderen Beiträgen auszugleichen. 1990 beispielsweise beschäftigte er sich anlässlich eines Treffens zum weiblichen Schreiben mit wenig bekannten zeitgenössischen Autorinnen: «Absichtlich wähle ich wie gesagt weder die Felder noch die in Italien zu Recht geehrten Jaeggy und Ceresa. Die Gedichte von Schriftstellerinnen wie Ketty Fusco und Silvana Lattmann überspringend, schliesse ich mit unpublizierten Texten, von denen ich vier aus einem unprätentiösen Heft kopiert habe. Ihre Autorin ist die Luganesin Edvige Livello.»
Auch in seinem Beitrag Tre scrittrici da non dimenticare von 2006 erwähnte Orelli Edvige Livello, die wie ihr Werk eine am Rande des literarischen Geschehens, in einen geheimnisvollen Schleier gehüllte Figur geblieben sei, eine stille und doch sehr aufmerksame Autorin. In Anlehnung an zwei ihrer Buchtitel vergleicht er sie mit einer Frau auf der Sitzbank, nach einem Spaziergang zwischen Wind und Mond.
Gedichte und Erzählungen veröffentlichte Livello auch unter dem Decknamen Nina Turchese. Sie sah sich eher als Erzählerin denn als Schriftstellerin und erfand Figuren, die sich in einer ganz eigenen Atmosphäre bewegen. Dem Interesse der Autorin für die Malerei verdanken sich auch ihre Illustrationen der Buchumschläge.
1973 wurde ihre Gedichtsammlung Le stagioni interiori von den Jurymitgliedern Piero Bianconi, Carlo Castelli und Ugo Frey mit dem Literaturpreis Francesco Chiesa fürs Erstlingswerk ausgezeichnet. Anlässlich des Todes der Autorin erinnerte Frey daran, wie Livello «nicht ohne Mühe» ihre essenziellen «Verse mit dem tadellosen Schnitt einwandfreier Elf-Silber» publiziert hatte. Die Dichterin ihrerseits schrieb, ihre Verse seien bald offene und bald geschlossene, in einem Garten ohne Chemiedünger gewachsene Blumen, «versi son fiori / un po’ sbocciati e un po’ chiusi / cresciuti in un giardino / senza concimi chimici.»
Edvige Livello (1901–1999): Ihr Werk erreichte das Publikum eher spät, ihr Band Poesie wurde 1993 mit dem Schweizerischen Schillerpreis ausgezeichnet. Den Nachlass, der auch unpublizierte Materialien enthält, schenkte die Tessiner Frauenforscherin Franca Cleis dem SLA im Jahr 2000.
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Eine Frau zwischen Wind und Mond (PDF, 615 kB, 22.01.2020)Der Bund, Samstag, 18. Januar 2020
Letzte Änderung 22.01.2020